Ich hasse dich, bitte verlass mich nicht

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Hannas Seele ist tausend Mal gebrochen. Nach außen tanzt und lacht sie, spielt die geschliffene Tochter, versucht sich einzureihen, in die makellosen Lebensläufe ihrer großen Geschwister. Doch die Fassade bröckelt und Hanna bricht regelmäßig ein. Denn was hat sie schon erreicht? Abitur, zwei abgebrochene Studiengänge, vier gescheiterte Beziehungen und seit Oktober nun auch eine Antwort auf ihr Dilemma. Diagnose: Borderline.

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Wenn Ken, braun gebrannt, Sixpack, körperbetonendes schwarzes T-Shirt, Glücksbärchen-Lächeln auf den Lippen und Grübchen in den Wangen, heute an Hannas Tür klopfen würde; dann würde sie die Tür kurz öffnen, doch im selben Moment wieder zuschlagen. Denn was Hanna will und braucht, das kann Ken ihr nicht geben. Hanna will kein Glücksbärchen und auch keinen Sixpack, keine Grübchen im Gesicht, kein Lächeln. Hanna braucht die zweite Hälfte, die ihre gebrochene Seele wieder ganz macht. Hanna sucht jemanden zum Streiten und Weinen, zum Anfauchen und Kreischen, genauso wie zum Schluchzen und Kuscheln. Einen, der bleibt, obwohl sie will, dass er geht. Einen, der sie erträgt und sie gerade deshalb liebt.

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Hanna hat zugelegt. 20 Kilogramm. Als ich sie kennenlernte, im August, waren ihre Wangen knochiger, ihre Hände zarter, ihre kristallblauen Glubschaugen größer. Aber sie gefällt mir. Sie lacht, singt zu unseren Songs von Prinz Pi und bekocht mich. In ihrem 1,40 Meter breiten IKEA-Bett machen wir es uns zwischen Lichterketten, Kuscheldecken, Himbeeren, Nachos und amerikanischer Erdnussbutter gemütlich. Als Hanna ihren grauen LMU-Hoodie hochkrempelt, erinnere ich mich, warum ich eigentlich bei ihr bin. Ich sehe sie wieder, die kleinen, feinen Striche auf ihrem linken Oberarm, fast wie eine Zeichnung. Die frischen Schnitte sind röter als die anderen. Ich will wegsehen, doch kann nicht, es fasziniert mich auf eine seltsame Art und Weise. Hanna zückt ihre Lieblingsklinge von Wilkinson und demonstriert mir, wie sie sich schneidet. Ganz leise, man hört es kaum, kullert jetzt das Blut. Sie gleichen winzigen Wassertropfen. Schneewittchenapfelrote Tropfen, so groß wie eine vollgesaugte Zecke. Wie Tropfen, die sich auf dem Blatt eines Frauenmantels sammeln, nachdem ein frischer Sommerregen die Natur aufatmen lässt. Für Hanna Routine. Für mich ein Schock, den ich erst noch verdauen muss.

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Hanna schneidet sich, weil sie etwas spüren muss. Wenn alle anderen Reize versagen, bleibt ihr nur noch die Klinge. In der Klinik hat sie sich einige Skills angeeignet, um der Selbstverletzung zu entkommen. In einer mit rot-weißen Rosen bedruckten Stofftasche bewahrt sie ihre kleinen Helfer auf: Finalgon-Salbe, die ihre Haut zum Glühen bringt, Ammoniak-Kapseln für Notfälle und Panikattacken in der Öffentlichkeit, blaue Knete für die Unruhe, einen silbernen Metallball mit spitzen Stacheln, eingewickelt in einer grauen Socke, sowie eine Rolle Verband für die Wunden auf der Haut. Auch ein Gefühlsprotokoll, in dem Hanna ihre Gedanken und ihr Verhalten reflektiert, liegt in der Tasche. Darin kann sie die aktuelle Spannung und Stärke eines Gefühls festhalten. Liegt der Pegel über 70, gilt es die gelernten Stresstoleranzskills anzuwenden. Ebenso ihre gefühlsmäßige Verwundbarkeit kann sie dort einschätzen.

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Hanna kichert und gibt zu: „Das mache ich viel zu selten, ich vergesse es immer.“ In einem blauen Ordner hebt sie alle Unterlagen auf, die sie bei der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) in der Klinik bekommen hat. Von Juli bis Oktober, vier ganze Monate lang war Hanna Patientin in der Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie in München. Dass es soweit gekommen ist, daran hat mitunter Hannas Exfreund Tarik Schuld. Es war ein heißer Sonntag, ihr Jahrestag, an dem alles begann. Den 30. Juni 2019 wird Hanna nie aus ihrem Gedächtnis löschen können. Damals noch 24 Jahre alt, radelte sie in ihrem Lieblingskleid, das blaue Kurze mit den Gänseblümchen drauf, zum vereinbarten Treffpunkt an der Wittelsbacher Brücke, zur Isar. Hannas blonde Haare klebten an ihrem Hals, ihr war warm, so warm, dass auch ihr Puls stieg und ihr Herz schneller schlug. Doch nicht wegen der Sonne oder dem Wetter. Es war alles wegen Tariks Worten, die wie Gift in Hannas Herz und Kopf wirkten. „Ich denke, dass es so keinen Sinn mehr macht“ – nicht mehr, nicht weniger, brauchte es aus Tariks Mund, und Hanna wurde taubstumm und blind zugleich. Ihr wurde schwummrig, die Panikattacke ruderte auf sie zu und überfiel sie wie eine Tsunamiwelle der Gefühle. Zuerst war da die Angst, erneut zurückgewiesen zu werden. ‚Das ist doch kein Grund sich zu trennen, oder?‘, dachte Hanna sich, doch brachte keinen Mucks mehr aus sich raus. Dann die Panik: Hanna hyperventiliert, schnappatmet, wird rot am ganzen Körper, ihr Herz rast wieder, ihr wird heiß, Puls und Blutdruck sind viel zu hoch. Sie presst ihre spitzen Fingernägel in ihrem linken Unterarm, um den inneren Druck auszugleichen. Ihre blauen Augen füllen sich mit Tränen, die bald über ihr Gesicht huschen und sich auf dem Kleid verteilen. „Er hat das so beiläufig gesagt, als wäre es ein ganz normales Gespräch und wollte dann gehen, einfach abhauen, doch ich hab ihn nicht gehen lassen“, erinnert sie sich. „Drei, vier Stunden saßen wir da, einfach so.“

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Hanna wollte an diesem Tag nicht mehr leben. Irgendwann fand sie ihre Stimme wieder und schrie. So laut, dass die Menschen auf der Straße sich nach ihr umblickten und fragten, ob alles in Ordnung sei. Tarik rief schließlich Nina, Hannas Schwester, an und übergab seine ehemalige Freundin wie ein Päckchen an sie. Ein Päckchen voller Elend, Kummer und Wunden. „In dem Moment habe ich mich gefühlt, als hinge ich an einem Abgrund, an denen ich mich nur noch mit beiden Händen festhalten konnte. Doch dann kommt Tarik und tritt auf meine Hände“, erzählt Hanna, ihre blauen Augen auf die weiße Wand ihres teuren Münchner WG-Zimmers gerichtet. Ich bin erstaunt, wie reflektiert sie bereits jetzt über diesen Tag sprechen kann, mir würde das deutlich schwerer fallen.

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„Haaaatschie!“, schnieft Hanna: „Boah, ich hasse diesen Schnupfen, regt mich das auf.“ Sie zerknüllt ihr knittriges Taschentuch und wirft es treffsicher in die andere Ecke ihres Zimmers in den Plastikpapierkorb. In Hannas zwölf Quadratmeter passt gerade so alles hinein, was sie zum Leben braucht, und zwar alles in weiß: Ihr ausziehbares Bett, ein großer Schrank, eine Kommode, ein Schreibtisch, Spiegel, Kleiderhaken, ein Nachttisch und ein Teppich. Die Möbel kenne ich alle aus dem IKEA-Katalog, manche davon besitze ich selbst auch. Doch Hanna ist kein Standard-IKEA-Mädchen, auch wenn es von außen so aussehen mag. Hanna ist anders, außergewöhnlich, irgendwie seltsam und doch liebenswert. Die Bilder und Fotografien über ihrem Bett verraten so viel mehr über sie. Wissen, welches die Möbel nicht liefern können. Dass sie eine Primaballerina im Geige-Spielen ist etwa. Oder dass sie ein 200-Mann-großes Orchester leitet. Dass sie beinahe Biologin geworden wäre, wenn dieser widerliche Professor sie nicht versucht hätte, zu vergewaltigen. Danach verließ Hanna ihre alte Stadt und zog nach München. Neuanfang. Sonderschulpädagogik sollte es nun werden. Doch auch hier schmiss sie nach fünf vollen Semestern das Tuch. „Am liebsten würde ich jetzt in die Pflege gehen und anderen psychisch kranken Menschen helfen, so wie mir geholfen wurde“, träumt Hanna vor sich hin, während sie die nächste Nacho zwischen ihre schmalen Lippen schiebt. Sie kichert wieder, ihre Kulleraugen leuchten. Und mein Herz wird warm, wenn ich sie so sehe. Denn für diesen winzigen Moment scheint alles perfekt und in Ordnung zu sein. Diese kleinen Momente gehören uns. Keiner Uni, keinem Exfreund, keiner Zukunft. Nur uns.

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Lonesome Cowboys – 3 Tipps gegen den Corona-Blues

Das Wohnzimmer: die weite Steppe. Ganz schön einsam hier. Komm, wir streicheln die Seele.

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Dass der Bäcker-Besuch zum Highlight wird und der reine Gedanke an ein Eis in der Frühlingssonne Fernweh auslöst, hätten wir vor Corona wohl keinem geglaubt. Shit happens – jetzt müssen wir damit umgehen. Gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen eine echte Herausforderung.

Wenn deine Seele kuscheln will, dann streichel sie mit diesen Tipps:

Socia Media Detox

Eine wahre Challange, aber wichtig, um auch mal abschalten zu können: Social Media Pausen. Eine Stunde am Abend, in der ihr bewusst das Handy weglegt. Lesen, Tagebuch schreiben, Kirtzeln, das Zimmer umstellen, einen Podcast hören – was du machst, ist egal – Hauptsache, du machst es ohne dein Smartphone. Damit das auch wirklich klappt, stelle es auf den Flugmodus und leg es in eine Schublade. Wenn du dich selbst challengen willst, kannst du deine Handy freie Dosis täglich erhöhen – wie lange hälst du es aus?

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Sprich mit deinen Liebsten

Klar, eine echte Umarmung ist schöner als ein verpixeltes Winken. Aber in Zeiten von Social Distancing sind Skype, Houseparty und Telefonate wahre Retter. Nach Gesprächen mit deinen Liebsten dürftest du feststellen: Wir sind zusammen allein. Ist kacke. Aber da draußen verpasst man rein garnichts. Und Distanz schafft manchmal Nähe. Vielleicht hast du lange Zeit Treffen vor dir hergeschoben – und beobachtest jetzt, dass du mit diesen Menschen tiefe Gespräche am Telefon führst. Sich treffen war in dem Sinn noch nie so einfach.

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Corona geht vorbei – mache Pläne für die Zeit danach.

Es gibt ein Leben nach Social Distancing und Ausgangssperren. Irgendwann gehen die Schule, Uni oder Arbeit ja wieder normal weiter und dann willst du vorbereitet sein. Oder die Krise gibt dir Aufwind für ein neues Abenteuer? Was auch immer: Schmiede Pläne, die dich glücklich machen. Das geht auch von zuhause. Alles auf Anfang – nach Corona weißt du viele Dinge noch mehr zu schätzen – wie ein einfaches Eis in der Frühjahrssonne.

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Einen sehr ermutigenden Text über die Zeit nach Corona liest du hier.

Alle Bilder: Unsplash. Text: Laura Schindler für Zeitjung.de

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Instagram vs. Reality

Wie soziale Netzwerke und ihr verzerrtes Weltbild zum Klimawandel beitragen (Archivtext von Juni 2018 überarbeitet)

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Alleine über den Wolken? No way. 100 andere Backpacker waren mit mir auf dem Adams Peak.

Ich weiß nicht, wie ich mit diesem Artikel beginnen soll. Es sind Gedanken, die mich seit längerem beschäftigen und immer wieder erkenne ich meine eigene Rolle in dem Ganzen und wie ich selbst Teil des Problems bin. Ich weiß nicht einmal, wie ich das Thema benennen soll. Ist es unsere Gesellschaft, unsere Generation? Der Fortschritt oder die Technologie? Ist es unsere Ungeduld, unser Hunger nach mehr. Ich versuche euch zu erklären, was ich meine. Ich war 2017-2018 knapp zehn Monate auf “Weltreise” (ich hasse dieses Wort, weil es in meinem Kopf ein reiches Kind suggeriert, das nach seinem Abitur Geld und ein Around-The-World-Ticket von den Eltern geschenkt bekommen hat und nun unbekümmert Selfies von überall postet, aber dazu später mehr.)

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In Indien (meine zweite Heimat) hat unsere Weltreise begonnen. Bucket List: Das Taj Mahal.

Wir sind Mitte September mit einem One-Way-Ticket nach Indien geflogen. Nein, nicht um in ein Ashram zu gehen und nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Ich habe mich bereits im Vorfeld unserer Reise schlecht dabei gefühlt, dafür so viel fliegen zu müssen. Dazu muss man sagen, dass ich aus einer sehr lebendigen Familie komme, in der viel diskutiert wird und jeder starke Standpunkte vertritt. Mein Bruder und meine Schwester steigen nicht mehr in ein Flugzeug, um die Umwelt zu schützen. Mein Vater lebt vegan und predigt Thesen über den Klimawandel. Ich vertrete dieselben Standpunkte wie meine Geschwister, versuche so gut es geht auf Fleisch zu verzichten und mich umweltbewusst zu ernähren und verhalten. Dennoch will ich mir nicht die Freiheit nehmen lassen, unsere Welt zu entdecken und bereisen. Ich weiß, das ist ein Widerspruch. Und mit meinem Verhalten trage ich nicht gerade zu einer Besserung des Problems bei, im Gegenteil. Ich beschleunige es. Ich poste schöne Urlaubsbilder auf Instagram, die meinen Freunden und Followern suggerieren, was für ein tolles Jetset-Life ich doch führe und wie schön es an all diesen Orten ist. Der ein oder andere möchte sich dann vielleicht auch das Recht herausnehmen, dasselbe erleben zu dürfen und bucht sein Flugticket. Klick.

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Die berühmte Bodnath Stupa im Herzen von Kathmandu, Nepal. (alle Fotos: Laura Schindler)

Darauf möchte ich eigentlich hinaus. Die Welt und wie wir sie wahrnehmen. Denn was meine Freunde auf Instagram sehen, sind die schönen Bilder am Pool, vor dem Taj Mahal, am Gipfel eines Berges oder auf einer einsamen, paradiesischen Insel. Was sie jedoch nicht sehen, sind die höllischen Fahrten in einem schwülen Bus, eingequetscht mit anderen, schwitzenden Reisenden, die wartende Schlange am „Instagram-Fotopunkt“, den anstrengenden Weg bis zum Gipfel oder das Schleppen des schweren Rucksacks quer durch die Stadt bis zur Unterkunft bei 40 Grad plus.

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Pflichtbild am Strand von Gili Trawangan (Indonesien) – die Herzen sind ein Tourimagnet.

Die Bilder vermitteln aber noch viel mehr. Sie sagen: Schau her, was ich mir leisten kann, was ich aus meinem Leben mache. Guck dir an, wie toll das ist. Was ich habe und du nicht. Du stehst links und ich rechts. Und irgendwo ist es ja genau das, was wir unterbewusst (unbewusst) wollen. Wir wollen wahrgenommen, geschätzt, respektiert, akzeptiert, bewundert und geliebt werden. Das liegt in der menschlichen Natur. Ist es also verwerflich, diese Bilder auf Instagram zu posten? Ich weiß es nicht. Ich möchte einerseits, dass meine Freunde sehen, wo ich bin und andererseits möchte ich unsere Umwelt schützen. Das passt nicht zusammen. Wenn ich radikal wäre, dann müsste es heißen: ganz oder gar nicht. Entweder kein Instagram oder keinen auf Umweltschützer machen. ‚Aber geht nicht auch beides?‘, würde jetzt mein verzweifeltes Ego sagen.
Eine richtige Zwickmühle. Momentan poste ich jedenfalls noch fleißig auf Instagram und jedes Bild ist ein Stich in die Magengrube für mein gespaltenes Ich. Denn bei jedem Mal schießen mir auch diese Gedanken in den Kopf: Vor drei Jahren war an diesem Ort noch nichts los und es lag vermutlich längst nicht so viel Plastikmüll herum wie jetzt.

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Nach mir die Sintflut: Ich weiß, dass ich Teil des Problems war und wohl immer noch bin.

Und: Auch ich bin hauptsächlich durch Instagram an diesen Ort navigiert worden.
Ich mache das Ganze mit meinem Verhalten kein Stück besser und trage eher dazu bei, dass es in Zukunft noch schlimmer werden wird. Nach dem Motto: „Nach mir die Sintflut! Scheiß drauf, ich hab’s ja schon gesehen.“ Dieser Gedanke widert mich an. Touristen widern mich an. Asiaten, die jeden Preis für das eine perfekte Foto zahlen und in Scharen in Touribussen alle Instagram-Punkte abklappern. Und doch muss ich mir eingestehen: Du bist auch hier und du bist Teil des Problems. Was mich an dem Ganzen am meisten schockiert, ist das Tempo des Tourismus sowie die Gleichgültigkeit der Touristen, aber auch der Einheimischen. Mittlerweile geht alles so unglaublich schnell und unkompliziert. Das Flugticket hat man innerhalb weniger Minuten am Handy gekauft, wofür man früher wohl zwei Stunden im Reisebüro gesessen wäre. Das Essen wird ebenso per App ins Airbnb bestellt. Dasselbe mit Sightseeing und Transport. Wollen wir etwas wissen, googeln wir es. Innerhalb von Sekunden bekommen wir die gewünschte Antwort. Das Gehirn kennt den Reiz, richtig zu grübeln und überlegen, um ans Ziel zu kommen, schon gar nicht mehr. Wollen wir uns über einen Ort informieren, suchen wir nach dem Hashtag auf Instagram. Wie „leicht“ uns das Leben mittlerweile gemacht wird. Wir werden immer ungeduldiger und schon fast nervös, wenn wir mal kein WLAN oder Netz haben. Wir haben verlernt zu warten, uns miteinander zu unterhalten, ohne aufs Handy zu sehen.

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Die Touristenschlange für das perfekte Instabildchen vor dem Pura Lempuyang Tempel auf Bali.

Zurück zum Tourismus. All diese technischen Fortschritte, die uns das Leben heutzutage so sehr erleichtern, führen dazu, dass das Reisen an sich schneller und einfacher wird. Die logische Konsequenz ist, dass immer mehr Menschen reisen wollen. Da Fliegen und Reisen immer günstiger wird und auch viele Menschen mehr Geld für ihre Freizeit zur Verfügung haben, wächst der Tourismus stetig an. Besonders stark ist mir dies in Neuseeland und auf Bali (Indonesien) bewusst geworden. Viele Chinesen aus dem Mittelstand und auch Neureiche entdecken momentan die Welt für sich. Sie haben nicht viel Zeit, um Urlaub zu machen und sind bereit, ungeheure Preise zu zahlen. Unter anderem ein Grund, warum Aktivitäten und Ausflüge in Neuseeland teilweise unbezahlbar für „normale“ Touristen aus Europa geworden sind.

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Der Kelingking Beach auf Nusa Penida (Indonesien) von oben, und ohne Touristenmassen.

Warum nur wollen wir das? Reisen, anderen zeigen, wo wir sind? Manchmal scheint es so, als wolle man die Welt für sich, wenn auch nur für bestimmte Zeit, an sich reißen. Wenn ich ans Reisen denke, dann kommen mir diese Gedanken in den Kopf: „Vielleicht ist in 20 Jahren schon alles kaputt, gerodet, vermüllt. Ich möchte die Welt jetzt noch sehen, bevor sie zu Grunde geht. Ich will auch sehen können, was meine Freundin, Schwester, Tante gesehen hat. Man lebt nur einmal. Jetzt hast du die Chance dazu, das zu tun, ergreife sie! Es gibt so viel zu entdecken auf der Welt.“ – Wie selbstsüchtig und egoistisch, ich weiß. Und trotzdem einfach die bittere Wahrheit. Und dabei bin ich sicher nicht die Einzige, die so denkt.

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Früh aufstehen lohnt sich: Hier am Milford Sound auf der Südinsel Neuseelands.

Reisen ist ein Luxus, den man sich gönnen möchte. Es ist eine Art materieller Wert, der immer bleibt, der einem nicht mehr genommen werden kann. Es ist, als würde man sich Erinnerungen kaufen. Ich muss dabei an Instagram-Sprüche wie „Travel as much as you can“, „Travel is the only thing you can buy that makes you richer” oder “The world is a book and those who do not travel, only read a page of it” denken, bei denen sich mir der Magen verdreht.

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Sonnenuntergänge in den Backwaters von Kerala, im Süden Indiens (Vembanad Lake Alleppey).

Was mich neben der Schnelligkeit am meisten schockiert, sind die Massen an Touristen und der Müll, der produziert wird. Frühere Paradies-Inseln wie Ibiza, Mallorca oder Gili Trawangan in Indonesien haben sich innerhalb weniger Jahre zu vermüllten Partyinseln entwickelt. Es hat mich angewidert, die hauptsächlich männlichen, schmierigen Partytouristen auf den Gili-Inseln zu beobachten. Es sah aus, als würden sie mit dem Anspruch anreisen, sich hier alles nehmen zu können, was sie wollen. Egal ob Alkohol, Sex oder Frauen. Alles gehört ihnen und nichts ist ihnen peinlich. Zwei Wochen voll einen drauf machen und dann weg. Dieser Anspruch, sich mit Geld alles erkaufen und erlauben zu dürfen, macht dabei einiges kaputt. Da die Lebensunterhaltskosten in fast allen Ländern in Südostasien (noch) extrem günstig sind, ist es in den letzten Jahren zu einem beliebten Pilgerziel für sogenannte Backpacker (Rucksacktouristen) aus Europa und westlich geprägten Ländern geworden, die nach dem Abitur oder Studium noch einmal etwas „erleben“ wollen, bevor der Ernst des Lebens beginnt.

Die schönen Maori Rock Carvings am Lake Taupo auf der Nordinsel Neuseelands.

Wenn ich meinen ehemaligen Schulfreunden von meinem Austauschjahr in Indien, Begriffe wie „gap year“ und „work and travel“ versuche zu erklären, verstehen sie nicht, was ich meine und sehen mich ratlos an. Für 99,9 Prozent meiner Freunde dort würde so etwas nie in Frage kommen. Nicht unbedingt wegen dem Kostenpunkt, sondern weil die Prinzipien ihrer Gesellschaft es nicht zulassen würden, sich einfach mal so ein Jahr auf die faule Haut zu legen. Schule, College, Arbeit, Heirat, Kinder kriegen und großziehen – so sieht deren Lebensplanung aus. Kein Platz, keine Zeit für Persönlichkeitsentwicklung und „Horizont erweitern“. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, dass ich mir so etwas leisten kann und sie nicht. Und gleichzeitig genieße ich die Zeit und bin stolz auf mich, dass ich es durchziehe und so fleißig dafür gespart habe. Man stirbt ja eh viel zu früh.

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Schaukeln über den Reisterassen in Tegalalang. Na, wer von euch war auch schon hier? Ertappt.

Was mit der heutigen Schnelllebigkeit und dem Massentourismus einher geht sind schlechtere Bildungs- und Entwicklungschancen für Einheimische. Klar, den Ländern geht es durch den anwachsenden Tourismus auf den ersten Blick gut, die vielen Arbeitsplätze in der Gastronomie kurbeln die Wirtschaft an. Doch viele sehen in dem Tourismus auch das schnelle Geld, was oft dazu führt, das Kinder, die eigentlich zur Schule gehen sollten, an Sehenswürdigkeiten Postkarten und Schmuck verkaufen und gebildete Jugendliche kein Studium aufnehmen, sondern lieber als Barkeeper arbeiten, weil sie so gut Englisch sprechen.

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Na, wo ist dieses Bild entstanden? Richtig: Im (teuren) Land der Hobbits, Matamata Movie Set.

Ich weiß, mein Text kommt mal wieder wie eine Moralpredigt daher und man kann diese ohnehin nicht ernst nehmen, weil ich genau das gemacht habe, was ich hier gerade so kritisiere. Doch – kitschig wie es klingen mag – die letzten zehn Monate haben mir die Augen geöffnet. Könnte ich die Reise noch einmal machen und hätte ich mehr Zeit gehabt, wäre ich nur über Land und per Zug, Bus oder Anhalter gereist. Ich hätte darauf geachtet, ökologische Anbieter bei Touren zu unterstützen und ich würde keine günstige Dolphin oder Whale Watching Tour mit hundert anderen Booten auf dem Wasser mehr mitmachen. Ich würde darauf achten, wenig bis gar keinen Müll mehr zu produzieren und zu recyceln. Die Reise hat mich auch viel gelehrt, wie ich zuhause in Zukunft leben möchte. Ich will bewusster und achtsamer mit meiner Umwelt umgehen. Mit mir. Ich möchte darauf achten, nachhaltig und verpackungsfrei einzukaufen und zu leben. Faire Mode zu tragen. So viel wie möglich selbst machen und herstellen. Second Hand Kleidung und Möbel einkaufen (scheiß auf IKEA, das hat echt jeder!).

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Nächster Touristenmagnet: Die Nine Arch Bridge in Demodara bei Ella, im Herzen Sri Lankas.

Ich weiß, das mag vielleicht sehr hipster und nach „oh, sie kommt erleuchtet aus ihrem Auslandsjahr zurück“ klingen. Aber denkt mal drüber nach, was ihr in eurem Alltag umstellen könnt. Es gibt so viele kleine Dinge, die nicht viel Zeit und Umdenken in Anspruch nehmen, und die jeder Einzelne von uns machen kann. Nimm einen Korb mit zum Einkaufen, fahr mit dem Rad in die Uni oder Arbeit, häng deine Wäsche mit der Hand auf anstatt sie schnell in den Trockner zu stopfen, dusche fünf anstatt zehn Minuten oder iss einmal weniger pro Woche Fleisch, und es wäre schon so viel getan! Ich weiß, viele von euch denken sich „was kann ich als Einzelner schon ändern“ oder „es bringt der Welt auch nichts, wenn wir Europäer uns ändern, Amerikaner und Asiaten aber weiterhin die Umwelt vermüllen“.

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Sunrise am Adams Peak: Die warmen Sonnenstrahlen belohnen den Aufstieg im Dunklen.

Aber dem ist nicht unbedingt so! Überlegt mal, was wir Europäer für einen Einfluss auf die anderen haben. Zum einen kann man Vorbild sein und eine Message an andere übertragen. Zum anderen tragen wir mit unserem Verhalten dazu bei, wie es in diesen Ländern in Zukunft aussehen wird. Denn wenn wir weiterhin nach Malle und Co. pilgern, um unsere eine Woche 500 Euro-Pauschalurlaub im Jahr einzufordern, sind wir mitunter verantwortlich für die Umweltverschmutzung dort.

Wir können mit entscheiden und beeinflussen, welche Ware wir aus Asien oder Amerika kaufen und dorthin exportieren. Wir können durchsetzen, ob wir diesen zerstörerischen Massentourismus und die damit einhergehenden Folgen weiter unterstützen wollen oder nicht. Hört auf Entschuldigungen für euer bequemes Verhalten zu finden und fangt endlich an, zu handeln! Danke.

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Um den Menschenmassen zu entgehen, muss man Sonnenaufgangwanderungen in Kauf nehmen. Dieses Bild ist am Roys Peak in Wanaka (Neuseeland) entstanden, gegen 4 Uhr morgens.

 

Sleeping Cities: Mein Oaky hat Semesterferien …

Man sagt, Eichstätt bestünde nur aus Studenten und Dozenten, aus Rentnern und Professoren. Zwischendrin vielleicht ein paar Familien, aber mehr auch nicht. Das Leben im Herzen Eichstätts wird seit Jahren von wenigen Nischenläden, Cafés und Bäckereien aufrecht erhalten, daneben gibt es viele Restaurants, die fast immer voll besetzt sind. Recht viel mehr gibt es hier sonst nicht.

Für Studenten spannend sind die Theke, der Nachtwächter und wenn man wirklich eskalieren möchte, die Dorfdisco DASDA. „Eichstätt ist, was du draus machst“, sagen die Studenten, und so ist es. Die wahren Partys finden im Untergrund statt.

Und dennoch ist Eichstätt liebenswert. Insbesondere, wenn man Münchens lautem Verkehr und Stress entgehen möchte – kurzum, wenn man Zeit zum Runterfahren braucht. Insbesondere zu Corona-Zeiten bietet sich ein Aufenthalt in Eichstätt an (vorausgesetzt man wohnt in der Stadt), denn geändert hat sich hier nicht viel.

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Hier geht’s zum Original-Artikel der Fotoserie auf Zeitjung.de.