Ich hasse dich, bitte verlass mich nicht

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Hannas Seele ist tausend Mal gebrochen. Nach außen tanzt und lacht sie, spielt die geschliffene Tochter, versucht sich einzureihen, in die makellosen Lebensläufe ihrer großen Geschwister. Doch die Fassade bröckelt und Hanna bricht regelmäßig ein. Denn was hat sie schon erreicht? Abitur, zwei abgebrochene Studiengänge, vier gescheiterte Beziehungen und seit Oktober nun auch eine Antwort auf ihr Dilemma. Diagnose: Borderline.

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Wenn Ken, braun gebrannt, Sixpack, körperbetonendes schwarzes T-Shirt, Glücksbärchen-Lächeln auf den Lippen und Grübchen in den Wangen, heute an Hannas Tür klopfen würde; dann würde sie die Tür kurz öffnen, doch im selben Moment wieder zuschlagen. Denn was Hanna will und braucht, das kann Ken ihr nicht geben. Hanna will kein Glücksbärchen und auch keinen Sixpack, keine Grübchen im Gesicht, kein Lächeln. Hanna braucht die zweite Hälfte, die ihre gebrochene Seele wieder ganz macht. Hanna sucht jemanden zum Streiten und Weinen, zum Anfauchen und Kreischen, genauso wie zum Schluchzen und Kuscheln. Einen, der bleibt, obwohl sie will, dass er geht. Einen, der sie erträgt und sie gerade deshalb liebt.

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Hanna hat zugelegt. 20 Kilogramm. Als ich sie kennenlernte, im August, waren ihre Wangen knochiger, ihre Hände zarter, ihre kristallblauen Glubschaugen größer. Aber sie gefällt mir. Sie lacht, singt zu unseren Songs von Prinz Pi und bekocht mich. In ihrem 1,40 Meter breiten IKEA-Bett machen wir es uns zwischen Lichterketten, Kuscheldecken, Himbeeren, Nachos und amerikanischer Erdnussbutter gemütlich. Als Hanna ihren grauen LMU-Hoodie hochkrempelt, erinnere ich mich, warum ich eigentlich bei ihr bin. Ich sehe sie wieder, die kleinen, feinen Striche auf ihrem linken Oberarm, fast wie eine Zeichnung. Die frischen Schnitte sind röter als die anderen. Ich will wegsehen, doch kann nicht, es fasziniert mich auf eine seltsame Art und Weise. Hanna zückt ihre Lieblingsklinge von Wilkinson und demonstriert mir, wie sie sich schneidet. Ganz leise, man hört es kaum, kullert jetzt das Blut. Sie gleichen winzigen Wassertropfen. Schneewittchenapfelrote Tropfen, so groß wie eine vollgesaugte Zecke. Wie Tropfen, die sich auf dem Blatt eines Frauenmantels sammeln, nachdem ein frischer Sommerregen die Natur aufatmen lässt. Für Hanna Routine. Für mich ein Schock, den ich erst noch verdauen muss.

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Hanna schneidet sich, weil sie etwas spüren muss. Wenn alle anderen Reize versagen, bleibt ihr nur noch die Klinge. In der Klinik hat sie sich einige Skills angeeignet, um der Selbstverletzung zu entkommen. In einer mit rot-weißen Rosen bedruckten Stofftasche bewahrt sie ihre kleinen Helfer auf: Finalgon-Salbe, die ihre Haut zum Glühen bringt, Ammoniak-Kapseln für Notfälle und Panikattacken in der Öffentlichkeit, blaue Knete für die Unruhe, einen silbernen Metallball mit spitzen Stacheln, eingewickelt in einer grauen Socke, sowie eine Rolle Verband für die Wunden auf der Haut. Auch ein Gefühlsprotokoll, in dem Hanna ihre Gedanken und ihr Verhalten reflektiert, liegt in der Tasche. Darin kann sie die aktuelle Spannung und Stärke eines Gefühls festhalten. Liegt der Pegel über 70, gilt es die gelernten Stresstoleranzskills anzuwenden. Ebenso ihre gefühlsmäßige Verwundbarkeit kann sie dort einschätzen.

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Hanna kichert und gibt zu: „Das mache ich viel zu selten, ich vergesse es immer.“ In einem blauen Ordner hebt sie alle Unterlagen auf, die sie bei der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) in der Klinik bekommen hat. Von Juli bis Oktober, vier ganze Monate lang war Hanna Patientin in der Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie in München. Dass es soweit gekommen ist, daran hat mitunter Hannas Exfreund Tarik Schuld. Es war ein heißer Sonntag, ihr Jahrestag, an dem alles begann. Den 30. Juni 2019 wird Hanna nie aus ihrem Gedächtnis löschen können. Damals noch 24 Jahre alt, radelte sie in ihrem Lieblingskleid, das blaue Kurze mit den Gänseblümchen drauf, zum vereinbarten Treffpunkt an der Wittelsbacher Brücke, zur Isar. Hannas blonde Haare klebten an ihrem Hals, ihr war warm, so warm, dass auch ihr Puls stieg und ihr Herz schneller schlug. Doch nicht wegen der Sonne oder dem Wetter. Es war alles wegen Tariks Worten, die wie Gift in Hannas Herz und Kopf wirkten. „Ich denke, dass es so keinen Sinn mehr macht“ – nicht mehr, nicht weniger, brauchte es aus Tariks Mund, und Hanna wurde taubstumm und blind zugleich. Ihr wurde schwummrig, die Panikattacke ruderte auf sie zu und überfiel sie wie eine Tsunamiwelle der Gefühle. Zuerst war da die Angst, erneut zurückgewiesen zu werden. ‚Das ist doch kein Grund sich zu trennen, oder?‘, dachte Hanna sich, doch brachte keinen Mucks mehr aus sich raus. Dann die Panik: Hanna hyperventiliert, schnappatmet, wird rot am ganzen Körper, ihr Herz rast wieder, ihr wird heiß, Puls und Blutdruck sind viel zu hoch. Sie presst ihre spitzen Fingernägel in ihrem linken Unterarm, um den inneren Druck auszugleichen. Ihre blauen Augen füllen sich mit Tränen, die bald über ihr Gesicht huschen und sich auf dem Kleid verteilen. „Er hat das so beiläufig gesagt, als wäre es ein ganz normales Gespräch und wollte dann gehen, einfach abhauen, doch ich hab ihn nicht gehen lassen“, erinnert sie sich. „Drei, vier Stunden saßen wir da, einfach so.“

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Hanna wollte an diesem Tag nicht mehr leben. Irgendwann fand sie ihre Stimme wieder und schrie. So laut, dass die Menschen auf der Straße sich nach ihr umblickten und fragten, ob alles in Ordnung sei. Tarik rief schließlich Nina, Hannas Schwester, an und übergab seine ehemalige Freundin wie ein Päckchen an sie. Ein Päckchen voller Elend, Kummer und Wunden. „In dem Moment habe ich mich gefühlt, als hinge ich an einem Abgrund, an denen ich mich nur noch mit beiden Händen festhalten konnte. Doch dann kommt Tarik und tritt auf meine Hände“, erzählt Hanna, ihre blauen Augen auf die weiße Wand ihres teuren Münchner WG-Zimmers gerichtet. Ich bin erstaunt, wie reflektiert sie bereits jetzt über diesen Tag sprechen kann, mir würde das deutlich schwerer fallen.

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„Haaaatschie!“, schnieft Hanna: „Boah, ich hasse diesen Schnupfen, regt mich das auf.“ Sie zerknüllt ihr knittriges Taschentuch und wirft es treffsicher in die andere Ecke ihres Zimmers in den Plastikpapierkorb. In Hannas zwölf Quadratmeter passt gerade so alles hinein, was sie zum Leben braucht, und zwar alles in weiß: Ihr ausziehbares Bett, ein großer Schrank, eine Kommode, ein Schreibtisch, Spiegel, Kleiderhaken, ein Nachttisch und ein Teppich. Die Möbel kenne ich alle aus dem IKEA-Katalog, manche davon besitze ich selbst auch. Doch Hanna ist kein Standard-IKEA-Mädchen, auch wenn es von außen so aussehen mag. Hanna ist anders, außergewöhnlich, irgendwie seltsam und doch liebenswert. Die Bilder und Fotografien über ihrem Bett verraten so viel mehr über sie. Wissen, welches die Möbel nicht liefern können. Dass sie eine Primaballerina im Geige-Spielen ist etwa. Oder dass sie ein 200-Mann-großes Orchester leitet. Dass sie beinahe Biologin geworden wäre, wenn dieser widerliche Professor sie nicht versucht hätte, zu vergewaltigen. Danach verließ Hanna ihre alte Stadt und zog nach München. Neuanfang. Sonderschulpädagogik sollte es nun werden. Doch auch hier schmiss sie nach fünf vollen Semestern das Tuch. „Am liebsten würde ich jetzt in die Pflege gehen und anderen psychisch kranken Menschen helfen, so wie mir geholfen wurde“, träumt Hanna vor sich hin, während sie die nächste Nacho zwischen ihre schmalen Lippen schiebt. Sie kichert wieder, ihre Kulleraugen leuchten. Und mein Herz wird warm, wenn ich sie so sehe. Denn für diesen winzigen Moment scheint alles perfekt und in Ordnung zu sein. Diese kleinen Momente gehören uns. Keiner Uni, keinem Exfreund, keiner Zukunft. Nur uns.

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Hebammen befürchten Aus des Belegsystems

Krankenkassen wollen Bezahlung ändern – Verbände und Betroffene warnen vor Kollaps der Geburtshilfe

Karin Mittermeier-Ruppert ist freiberufliche Beleghebamme am Klinikum St. Elisabeth in Straubing. Seit 7 Uhr morgens ist sie heute im Dienst. Trotzdem wirkt sie gegen Mittag noch aufgeweckt und frisch. Sie hält die Stellung auf der Station, begrüßt schwangere Frauen zu ihrem Termin, bespricht sich mit Kolleginnen, geht Patientenakten durch und führt nebenbei noch Telefonate. All das geschieht irgendwie parallel, in einer routinierten und bestimmten Art. Und trotzdem freundlich und angenehm.

Karin Mittermeier-Ruppert misst bei einer Hochschwangeren die Herztöne des Kindes.
Karin Mittermeier-Ruppert misst bei einer Hochschwangeren die Herztöne des Kindes.            © Laura Schindler

Was beim ersten Hinsehen nicht auffällt: Mittermeier-Ruppert sorgt sich um die Zukunft ihres Berufs. Die Pläne des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), die Vergütung von Beleghebammen grundlegend zu ändern, bereiten ihr Kopfschmerzen. Demnach wollen die Krankenkassen durchsetzen, dass Beleghebammen im Schichtdienst nur noch zwei Frauen gleichzeitig betreuen dürfen. Alle darüber hinaus erbrachten Leistungen würden den Hebammen dann nicht mehr von den Krankenkassen erstattet. „Im Idealfall kümmert sich jede Hebamme nur um eine Gebärende, doch jeder weiß, dass sich Geburtstermine nicht planen lassen und Kinder manchmal gleichzeitig auf die Welt kommen wollen. Diese Beschränkung ist also völlig unrealistisch“, so Mittermeier-Ruppert.

Nur noch zwei Frauen gleichzeitig betreuen

Eine kurze telefonische Beratung, eine Hilfeleistung bei Beschwerden sowie jede andere Tätigkeit bei weiteren Schwangeren wären mit den gesetzlichen Krankenkassen im selben Zeitraum nicht mehr abrechenbar. „Die Krankenkassen würden die Vergütung der erbrachten Leistung entweder auf Kosten der Hebammen, der Kliniken oder der Versicherten (als Selbstzahlerin) einsparen“, schreibt der Deutsche Hebammenverband (DHV) in seinem Argumentarium gegen die geplanten Forderungen.

„Allein heute morgen habe ich innerhalb von drei Stunden zehn Frauen mit unterschiedlichen Anliegen behandelt. Im Falle einer 1:2-Betreuung hätte ich acht von ihnen wieder heimschicken und abweisen müssen, weil ich nicht mehr als zwei Schwangere gleichzeitig behandeln dürfte“, sagt Karin Mittermeier-Ruppert. Für ein telefonisches Beratungsgespräch könne sie sieben Euro abrechnen, bei etwa 15 Anrufen pro Stunde sei dies viel Geld, das ihr verloren ginge. Und Geld, das die Hebammen dringend brauchen. „Das lange Zeit an sich bewährte System ist in den vergangenen Jahren für Beleghebammen zunehmend unwirtschaftlich geworden. Dies liegt an der geringen Grundvergütung und den überproportional stark angestiegenen beruflichen Kosten“, so der DHV. Die Hebammenverbände forderten deshalb eine Erhöhung der Vergütung in den Verhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen. Da man sich dort aber nicht einigen konnte, muss nun voraussichtlich im Mai eine anberufene Schiedsstelle über die Forderungen beider Seiten entscheiden.

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Viele Hebammen befürchten, dass sich die Versorgung schwangerer Frauen durch die neuen Forderungen des GKV-Spitzenverbands verschlechtern wird.

Der GKV-Spitzenverband kann sich die Aufregung der Hebammen nicht erklären. Im Gegenteil: „Wir wollen die Arbeit der Beleghebammen künftig sogar besser bezahlen“, betont die stellvertretende Pressesprecherin Ann Marini. Für jene freiberuflichen Hebammen, die Geburten in Kliniken betreuen, will er die Vergütung um bis zu 30 Prozent erhöhen. „Wie der Deutsche Hebammenverband dieses Angebot als massiven finanziellen Einschnitt auslegen kann, ist nicht nachzuvollziehen“, so Marini.

Spitzenverband will Qualität verbessern

Bisher erhalte eine Beleghebamme für die Beleggeburt (bis zu acht Stunden) im Schichtdienst tagsüber 271,94 Euro. Künftig soll sie für eine Geburt, die bis zu sechs Stunden dauere, 331 Euro bekommen. Sofern ein Schichtwechsel notwendig werde, könne jede Hebamme zukünftig die Zeit in Rechnung stellen, in der sie die Frau während der Geburt betreut hat. Mit seiner Forderung der 1:2-Regelung wolle der Spitzenverband die Qualität steigern und erreichen, dass die Schwangere und das Neugeborene besser betreut werden. Marini: „Bislang hatten dies auch die Hebammenverbände selbst gefordert. Jetzt scheinen sie davon abzurücken und verweisen sogar auf eine vermeintliche Gefahr für die Versorgung.“ Die Pressesprecherin argumentierte, dass die 1:2-Betreuung nur auf die Akutphase (eine Stunde vor und drei Stunden nach der Geburt) zutreffe. Angesprochen auf einen möglichen Notfall, in dem mehr als zwei Schwangere behandelt werden müssten, verwies Marini auf das zuständige Krankenhaus, das hier einspringen müsse.

Karin Mittermeier-Ruppert ist erschöpft und bald am Ende ihrer Kräfte: „Ich bin müde, es macht mich mürbe. Ständig werden uns Hebammen weitere Steine in den Weg gelegt, wir wollen doch einfach nur unsere Arbeit machen!“ In den letzten Tagen und Nächten hat die Mutter von zwei Kindern viele Briefe geschrieben, unter anderem an den Landtag und an einen Bundestagsabgeordneten, um möglichst viele Menschen zu mobilisieren und auf das Thema aufmerksam zu machen. Freiberufliche Beleghebammen hätten es angesichts der immer weiter steigenden Prämien für die Haftpflichtversicherung ohnehin schon schwer genug. Mittermeier-Ruppert versteht, wenn einige von ihnen bereits resigniert haben und ihren Beruf niederlegen möchten. „Es wird Zeit, dass endlich Ruhe einkehrt.“

Auch eine Beleghebamme aus Landshut, die nicht namentlich genannt werden möchte, wäre von den Forderungen betroffen. „Wenn die Pläne so umgesetzt werden, werde ich definitiv meinen Beruf niederlegen“, sagt sie. „Setzt der GKV-Spitzenverband seine Forderungen durch, müssen weitere geburtshilfliche Abteilungen vermutlich schließen. Noch mehr Hebammen werden ihren Beruf niederlegen. Die Leidtragenden sind Familien, denn sie werden alleine gelassen. Bayernweit würde das gravierende Einschnitte bei der Geburtshilfe bedeuten“, schreibt sie in einem Brief an die Presse.

Hebammen warnen vor Kollaps der Geburtshilfe

„Es macht den Anschein, dass der Spitzenverband eine schlechtere, sparsamere, teurere und unflexiblere Versorgung für Frauen durchsetzen will. Das bewährte System der freiberuflichen Beleghebammen würde durch diese Regelungen abgeschafft“, schreiben Sarah Pfundheller und Simone Adlhoch von der Klinik St. Hedwig in Regensburg im Namen der Oberpfälzer und niederbayerischen Beleghebammen. Alternativen wie eine Festanstellung der Hebammen seien für viele kleinere Kliniken aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht realistisch. Die Hebammen befürchten, dass diese Kreißsäle geschlossen werden: „Die Folge wäre eine weitere Zentralisierung der Geburtshilfe, immens lange Anfahrtszeiten und eine damit verbundene schlechtere Versorgung der Frauen und Babys.“

Am Dienstag veranstaltet der Bayerische Hebammen-Landesverband ein Treffen für seine Mitglieder in München, um über die aktuelle Situation zu informieren. Am Samstag, 8. April, informieren Hebammen aus verschiedenen Kliniken von 10 bis 18 Uhr an einem Stand auf dem Neupfarrplatz in Regensburg die Bevölkerung.


 Kommentar

Vermessene Forderung

Kaum ein Kind kommt ohne Hebamme auf die Welt. Die Hebamme ist der erste Mensch, der das Neugeborene in seinen Händen hält, quasi Bindeglied zwischen dem Baby und seinen Eltern. In der Zeit vor und nach der Schwangerschaft ist die Hebamme ein wichtiger Begleiter der Frau, beantwortet Fragen, ist zur Stelle bei Beschwerden, klärt auf bei Sorgen und schenkt Vertrauen. Es ist nicht auszudenken, was wir ohne Hebammen machen würden.

Mit den neuen Forderungen der Krankenkassen wird den Beleghebammen nur ein weiterer Stein in den Weg gelegt, was – falls die Pläne umgesetzt werden – dafür sorgen wird, dass noch mehr Hebammen ihren Beruf niederlegen. Eine 1:2-Betreuung mit der jetzigen Kapazität an Hebammen ist nicht nur unrealistisch, sondern auch impraktikabel im Alltag.

Geburten und Notfälle sind nicht planbar, deshalb ist es vermessen zu fordern, dass sich eine Hebamme nur um zwei Schwangere gleichzeitig kümmern darf. Die dritte, vierte oder fünfte bezahlt dann entweder aus eigener Tasche, wartet – falls vorhanden – lange auf eine Rufbereitschaft oder muss gleich in ein anderes, weit entferntes Krankenhaus fahren. Leidtragender ist am Ende nicht nur die Hebamme, die weniger verdient, sondern auch die schwangere Frau. Um eine qualitativ bessere Betreuung der Schwangeren zu garantieren, müssten zuallererst bessere Rahmenbedingungen für die Beleghebammen geschaffen werden.

„Eine utopische Welt“

Ein harter Kern aus freiwilligen Helfern macht das Utopia Island Festival zu dem, was es ist

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Dass sich Utopia Island durch sein einzigartiges Flair von anderen Festivals in Bayern und Deutschland abhebt, liegt vor allem an den freiwilligen und kreativen Helfern, die hinter dem Namen „Utopia“ stehen. Durch die ausgefallene, selbst gemachte Dekoration verleihen sie dem Festival den Stempel „Selfmade“ und machen es zu einem sympathischen Ort, an dem man verweilen möchte.
„Was machen wir mit der Seaside?“, fragt Lena in die Runde. Ein genauer Plan steht noch nicht fest. Ein paar Leute vom Team machen gerade Mittag, es gibt Schnitzelsemmeln und Spezi. Luft holen, durchatmen, ein bisschen im Schatten abkühlen. Dann geht es wieder weiter, draußen in der sonnigen Hitze. Es ist Montag. Am Donnerstag beginnt das Festival, dann muss alles stehen. Hektik, Stress? Keine Spur. Im Backstagezelt, in dem Gerüste, Kabel und Kisten noch verstreut herumliegen, herrscht eine lockere Atmosphäre.
„Tobi hatte eine gute Idee für die Seaside, wir könnten einen Steg am Wasser bauen“, sagt einer. „Du weißt aber schon, dass wir am Donnerstag aufmachen, oder?“, antwortet Lena – halb ernst gemeint, halb lächelnd. Ideen werden gesammelt und ausgetauscht, es wird diskutiert – was könnte gut aussehen? Eins ist klar: Es muss einzigartig, besonders sein. Es muss zu „Utopia“ passen.

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Am Wochenende geht das Elektrofestival in die vierte Runde. Lastwagen, Bagger und viele Helfer lassen seit vergangener Woche die Welt von Utopia Island entstehen. Schritt für Schritt verwandelt sich der Aquapark so vom normalen Badeweiher zu einer Trauminsel mit vier verschiedenen Musikbühnen, an denen am Wochenende über 10 000 Menschen feiern werden. Tanzen zum Beat von Paul Kalkbrenner, Mitsingen bei Liedern von „Deichkind“ und Lena. Oder einfach nur die Seele am Weiher baumeln lassen und eine gute Zeit mit Freunden verbringen. Bis dahin aber gibt es fürs Aufbauteam, insbesondere für das Dekoteam, noch einiges zu tun. Denn Utopia wäre nicht Utopia ohne diese gewissen Details. Die Details, die das Flair von Utopia Island ausmachen. Das Flair, das Jahr für Jahr immer mehr Musikbegeisterte an den See lockt.
Das Brainstorming geht weiter. Die Jungs vom Handwerkerteam fragen Lena, wie sie ihre Wolken aufhängen möchte. Geplant sind blau und pink besprühte Styroporwolken, zusammen mit alten Schallplatten an Girlanden. Chris, einer der Jungs, zeichnet etwas mit Bleistift auf den Biertisch: „So in etwa, überkreuzt, könntest du sie doch aufhängen“, schlägt er vor. „Ham mia eigentlich koa Papier?“, witzelt Lena von der anderen Seite. So geht es immer hin und her, wie im Ping Pong. Auf einmal kommt Vroni, auch eine Dekodame, mit lauter runden Holzplatten an. „Bitte schmeißt die nicht weg! Irgendwas will ich daraus noch machen.“ An Ideen mangelt es ja nicht.

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„Wir arbeiten uns immer von außen nach innen“, erklärt Basti, Kopf des Dekoteams. Sobald die groben Umrisse wie das große Zirkuszelt, der Campingplatz, die Bodenplatten und Bühnen stehen, können sich die Dekofeen an die Details machen. Das Motto „Viele Hände, schnelles Ende“ gehört für Chris dabei dazu: „Der Arbeitstag für uns hat eigentlich 24 Stunden.“ Vor allem kurz vor Festivalbeginn legen viele Helfer die ein oder andere Nachtschicht ein.
Kurzes Kopfschütteln, und trotzdem lockeres Lachen dann, als Lena erfährt, dass ihre DJ-Schilder abgesägt wurden. Auf Holzbrettern hatte sie im Vorhinein aufwendig die Namen der Künstler mit deren Auftrittszeiten aufgemalt, welche dann vor den einzelnen Bühnen platziert werden. Nun hat einer „aus Versehen“ die Uhrzeiten abmontiert. Lena lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Sowas passiert doch jedes Mal – dann müssen wir eben improvisieren“, scherzt sie.
Hinter dem Namen „Utopia Island“ steht ein harter Kern von rund 30 freiwilligen Helfern. Die meisten kommen aus dem Raum Freising und gehen eigentlich einem anderen Beruf nach. Extra für die Vorbereitungen zum Festival nehmen sie sich ein oder zwei Wochen Urlaub. Um die Deko kümmern sich etwa zehn Leute. Übers Jahr verteilt macht jeder immer „ein bisschen was“, man sammelt Ideen, probiert etwas Neues aus. Etwa zehn Tage vorm Festival geht es in die heiße Phase, da packt dann jeder mit an. „Bei der Gestaltung wird uns freie Hand gelassen. Wenn wir uns etwas ausdenken, muss nur überprüft werden, ob Budget und Sicherheit passen“, erzählt Lena. Wichtig ist dabei immer, dass die Idee kreativ und ausgefallen ist. Denn genau das macht das besondere Flair von Utopia aus. „Wir bauen nicht einfach nur LED-Wände auf, wie es bei anderen Festivals üblich ist“, so Lena. „Bei uns werden die Sachen mit Liebe selbst gemacht, da steckt Herz drin!“ Sinnbildlich für das Flair und die Liebe zum Detail stehen so die meist aus Holz selbst gebauten Mülleimer, Schilder, Liegen – oder ganz neu: die Riesenschaukel. „Es ist schön, so etwas auf die Füße zu stellen und zu sehen, wie die Utopiawelt von Tag zu Tag langsam entsteht. Ich glaube, das ist der Grund, warum die Helfer hier so begeistert sind und freiwillig so viel leisten“, sagt Lena.

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„Schon beim Einchecken auf der Insel werden die Gäste auf Utopia Island mit der liebevollen und familiär gestalteten Dekoration willkommen geheißen, was sofort für eine friedvolle und harmonische Stimmung auf dem Festival sorgt und die Besucher für drei Tage in eine ,Glocke der Unbeschwertheit‘ tauchen lässt“, sagen die Veranstalter Lorenz Schmid und Tom Sellmeir. Genau das sei auch der Grund, warum es während des Festivals noch nie zu größeren Problemen gekommen sei, meint Sellmeir. „Es wurde nie etwas geklaut oder beschädigt, das hat uns wirklich erstaunt. Die Gäste respektieren sich gegenseitig und gehen friedlich miteinander um.“ Bei Bereichen wie der beliebten Sitzecke mit einem Holzklavier, auf dem eine Gitarre festgeschraubt ist, habe man beispielsweise erwartet, dass solche Gegenstände sofort weg seien. „Die Gitarre lag am Ende des Festivals aber immer noch genau so da wie am Anfang“, erzählt Sellmeir.

Nun geht es wieder raus und ran an die Arbeit. Lena beginnt ihre Styroporwolken mit Farbe zu besprühen, Vroni und Amelie suchen die Wegweis-Schilder zusammen. Dann geht es ab zum Montieren. Durch das Gelände führt ein kurviger Kiesweg mit großen, hohen Holzpfosten und pinken Utopia-Wimpeln an Seilen befestigt. Links und rechts befinden sich die Musikbühnen: ganz vorne links direkt am See die Seaside-Stage, in der Mitte das große Aura-Zirkuszelt, rechts hinten die Mainstage-Bühne und der Terra-Dome. Diese werden mit den vier Elementzeichen Wasser (Tropfen), Luft (Wolke), Feuer (Flamme) und Erde (Berge) ausgeschildert.

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Immer wieder kommen auch Schaulustige trotz Absperrung durchs Wasser ans Festivalgelände und wollen sehen, was denn da gewerkelt wird. Beliebt ist dabei freilich die große neue Holzschaukel – und die wird gleich mal ausprobiert. Trotzdem müssen die Helfer die Badegäste immer aufs Neue vom Platz scheuchen. Schließlich sollen die neuen „Utopia-Accessoires“ ja eine Überraschung für den Festivalstart sein.


Beim Festival selbst haben die Helfer auch keine Ruhe und sind ständig auf Achse: „Kaputtes muss repariert werden, irgendwo wird man immer gebraucht“, sagt Lena. Als Helfer erlebt man das Festival eben auf eine ganz andere Art und Weise. „Im Backstagebereich herrscht immer eine gute, lockere Stimmung zwischen Helfern und Künstlern“, sagt die 25-Jährige. „Wir haben zum Beispiel jedes Mal Tischtennisplatten aufgestellt, das finden die meisten total klasse.“ Vom Backstagebereich haben auch die Mädels aus der Küche, die das Essen für Helferteam und Künstler zubereiten, einige Anekdoten auf Lager: „Der KWABS letztes Jahr war total der Süße, nett und unkompliziert“ oder „Vor zwei Jahren ist Eva Padberg in die Küche gekommen, obwohl an der Tür ganz klar steht ,Zutritt verboten‘. Kathrin hat dann sofort laut ,RAUS‘ geschrien, ohne zu wissen, wer das eben war.“

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Seinen Ursprung findet Utopia Island im Vorgänger-Festival „Havana Nights“, das bis 2011 jährlich am Sportplatz in Haag stattfand. Schon damals war es unter dem Motto „Feel the Difference“ das beliebteste Festival im Landkreis und erreichte von Jahr zu Jahr größeren Zuspruch. So konnte man zu dieser Zeit bereits mit DJ-Headlinern wie Tom Craft, Fritz Kalkbrenner oder Coco Fay aufwarten. Irgendwann hatte man in Haag dann jedoch ein Platzproblem, das Festival wuchs, die Kapazitäten der Gemeinde Haag waren allerdings ausgereizt. Zudem konnte man das Festival in der Größenordnung nicht mehr als Verein durch den VfR Haag ausführen. Aus diesen Umständen heraus wurde schließlich die Klangfeld GmbH gegründet und Havana Nights 2011 ein letztes Mal in Haag abgehalten.
Lang wurde nach einer neuen Festival-Location gesucht, bis man mit dem Aquapark in Moosburg als idealem Austragungsort fündig wurde. 2013 wagte das alte Orgateam von Havana Nights (jetzt Klangfeld) dann den Neuanfang mit der Erstauflage von Utopia Island. „Wir fanden, dass der alte Name ,Havana Nights‘ austauschbar ist, und haben lange nach einem neuen gegrübelt“, erzählt Tom Sellmeir. „Irgendwann ist dann die Idee der utopischen Insel von der Geschichte nach Thomas Morus ins Rollen gekommen.“ In dieser strandet ein Seemann auf einer Insel, auf der es keinen Streit, keine Gewalt und keinen Krieg – also totalen Frieden – gibt. Als der Seemann zurückkehrt und von der Insel erzählt, halten ihn die Leute für verrückt und erklären solch eine Insel für „utopisch“.
Auf dem Festival „Utopia Island“ soll diese Utopie zur Realität werden, die Veranstalter sind dem Motto „We Are One“ treu geblieben. Friedlich und harmonisch soll es auch dieses Jahr zugehen, wenn wieder Gäste aus Frankreich, Italien, Holland, Irland, England, Österreich, Ungarn und natürlich Deutschland an den See reisen und eintauchen in die utopische Welt voller Glück, Tanz und Musik.

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