Ich hasse dich, bitte verlass mich nicht

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Hannas Seele ist tausend Mal gebrochen. Nach außen tanzt und lacht sie, spielt die geschliffene Tochter, versucht sich einzureihen, in die makellosen Lebensläufe ihrer großen Geschwister. Doch die Fassade bröckelt und Hanna bricht regelmäßig ein. Denn was hat sie schon erreicht? Abitur, zwei abgebrochene Studiengänge, vier gescheiterte Beziehungen und seit Oktober nun auch eine Antwort auf ihr Dilemma. Diagnose: Borderline.

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Wenn Ken, braun gebrannt, Sixpack, körperbetonendes schwarzes T-Shirt, Glücksbärchen-Lächeln auf den Lippen und Grübchen in den Wangen, heute an Hannas Tür klopfen würde; dann würde sie die Tür kurz öffnen, doch im selben Moment wieder zuschlagen. Denn was Hanna will und braucht, das kann Ken ihr nicht geben. Hanna will kein Glücksbärchen und auch keinen Sixpack, keine Grübchen im Gesicht, kein Lächeln. Hanna braucht die zweite Hälfte, die ihre gebrochene Seele wieder ganz macht. Hanna sucht jemanden zum Streiten und Weinen, zum Anfauchen und Kreischen, genauso wie zum Schluchzen und Kuscheln. Einen, der bleibt, obwohl sie will, dass er geht. Einen, der sie erträgt und sie gerade deshalb liebt.

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Hanna hat zugelegt. 20 Kilogramm. Als ich sie kennenlernte, im August, waren ihre Wangen knochiger, ihre Hände zarter, ihre kristallblauen Glubschaugen größer. Aber sie gefällt mir. Sie lacht, singt zu unseren Songs von Prinz Pi und bekocht mich. In ihrem 1,40 Meter breiten IKEA-Bett machen wir es uns zwischen Lichterketten, Kuscheldecken, Himbeeren, Nachos und amerikanischer Erdnussbutter gemütlich. Als Hanna ihren grauen LMU-Hoodie hochkrempelt, erinnere ich mich, warum ich eigentlich bei ihr bin. Ich sehe sie wieder, die kleinen, feinen Striche auf ihrem linken Oberarm, fast wie eine Zeichnung. Die frischen Schnitte sind röter als die anderen. Ich will wegsehen, doch kann nicht, es fasziniert mich auf eine seltsame Art und Weise. Hanna zückt ihre Lieblingsklinge von Wilkinson und demonstriert mir, wie sie sich schneidet. Ganz leise, man hört es kaum, kullert jetzt das Blut. Sie gleichen winzigen Wassertropfen. Schneewittchenapfelrote Tropfen, so groß wie eine vollgesaugte Zecke. Wie Tropfen, die sich auf dem Blatt eines Frauenmantels sammeln, nachdem ein frischer Sommerregen die Natur aufatmen lässt. Für Hanna Routine. Für mich ein Schock, den ich erst noch verdauen muss.

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Hanna schneidet sich, weil sie etwas spüren muss. Wenn alle anderen Reize versagen, bleibt ihr nur noch die Klinge. In der Klinik hat sie sich einige Skills angeeignet, um der Selbstverletzung zu entkommen. In einer mit rot-weißen Rosen bedruckten Stofftasche bewahrt sie ihre kleinen Helfer auf: Finalgon-Salbe, die ihre Haut zum Glühen bringt, Ammoniak-Kapseln für Notfälle und Panikattacken in der Öffentlichkeit, blaue Knete für die Unruhe, einen silbernen Metallball mit spitzen Stacheln, eingewickelt in einer grauen Socke, sowie eine Rolle Verband für die Wunden auf der Haut. Auch ein Gefühlsprotokoll, in dem Hanna ihre Gedanken und ihr Verhalten reflektiert, liegt in der Tasche. Darin kann sie die aktuelle Spannung und Stärke eines Gefühls festhalten. Liegt der Pegel über 70, gilt es die gelernten Stresstoleranzskills anzuwenden. Ebenso ihre gefühlsmäßige Verwundbarkeit kann sie dort einschätzen.

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Hanna kichert und gibt zu: „Das mache ich viel zu selten, ich vergesse es immer.“ In einem blauen Ordner hebt sie alle Unterlagen auf, die sie bei der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) in der Klinik bekommen hat. Von Juli bis Oktober, vier ganze Monate lang war Hanna Patientin in der Klinik für Psychotherapie und Psychiatrie in München. Dass es soweit gekommen ist, daran hat mitunter Hannas Exfreund Tarik Schuld. Es war ein heißer Sonntag, ihr Jahrestag, an dem alles begann. Den 30. Juni 2019 wird Hanna nie aus ihrem Gedächtnis löschen können. Damals noch 24 Jahre alt, radelte sie in ihrem Lieblingskleid, das blaue Kurze mit den Gänseblümchen drauf, zum vereinbarten Treffpunkt an der Wittelsbacher Brücke, zur Isar. Hannas blonde Haare klebten an ihrem Hals, ihr war warm, so warm, dass auch ihr Puls stieg und ihr Herz schneller schlug. Doch nicht wegen der Sonne oder dem Wetter. Es war alles wegen Tariks Worten, die wie Gift in Hannas Herz und Kopf wirkten. „Ich denke, dass es so keinen Sinn mehr macht“ – nicht mehr, nicht weniger, brauchte es aus Tariks Mund, und Hanna wurde taubstumm und blind zugleich. Ihr wurde schwummrig, die Panikattacke ruderte auf sie zu und überfiel sie wie eine Tsunamiwelle der Gefühle. Zuerst war da die Angst, erneut zurückgewiesen zu werden. ‚Das ist doch kein Grund sich zu trennen, oder?‘, dachte Hanna sich, doch brachte keinen Mucks mehr aus sich raus. Dann die Panik: Hanna hyperventiliert, schnappatmet, wird rot am ganzen Körper, ihr Herz rast wieder, ihr wird heiß, Puls und Blutdruck sind viel zu hoch. Sie presst ihre spitzen Fingernägel in ihrem linken Unterarm, um den inneren Druck auszugleichen. Ihre blauen Augen füllen sich mit Tränen, die bald über ihr Gesicht huschen und sich auf dem Kleid verteilen. „Er hat das so beiläufig gesagt, als wäre es ein ganz normales Gespräch und wollte dann gehen, einfach abhauen, doch ich hab ihn nicht gehen lassen“, erinnert sie sich. „Drei, vier Stunden saßen wir da, einfach so.“

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Hanna wollte an diesem Tag nicht mehr leben. Irgendwann fand sie ihre Stimme wieder und schrie. So laut, dass die Menschen auf der Straße sich nach ihr umblickten und fragten, ob alles in Ordnung sei. Tarik rief schließlich Nina, Hannas Schwester, an und übergab seine ehemalige Freundin wie ein Päckchen an sie. Ein Päckchen voller Elend, Kummer und Wunden. „In dem Moment habe ich mich gefühlt, als hinge ich an einem Abgrund, an denen ich mich nur noch mit beiden Händen festhalten konnte. Doch dann kommt Tarik und tritt auf meine Hände“, erzählt Hanna, ihre blauen Augen auf die weiße Wand ihres teuren Münchner WG-Zimmers gerichtet. Ich bin erstaunt, wie reflektiert sie bereits jetzt über diesen Tag sprechen kann, mir würde das deutlich schwerer fallen.

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„Haaaatschie!“, schnieft Hanna: „Boah, ich hasse diesen Schnupfen, regt mich das auf.“ Sie zerknüllt ihr knittriges Taschentuch und wirft es treffsicher in die andere Ecke ihres Zimmers in den Plastikpapierkorb. In Hannas zwölf Quadratmeter passt gerade so alles hinein, was sie zum Leben braucht, und zwar alles in weiß: Ihr ausziehbares Bett, ein großer Schrank, eine Kommode, ein Schreibtisch, Spiegel, Kleiderhaken, ein Nachttisch und ein Teppich. Die Möbel kenne ich alle aus dem IKEA-Katalog, manche davon besitze ich selbst auch. Doch Hanna ist kein Standard-IKEA-Mädchen, auch wenn es von außen so aussehen mag. Hanna ist anders, außergewöhnlich, irgendwie seltsam und doch liebenswert. Die Bilder und Fotografien über ihrem Bett verraten so viel mehr über sie. Wissen, welches die Möbel nicht liefern können. Dass sie eine Primaballerina im Geige-Spielen ist etwa. Oder dass sie ein 200-Mann-großes Orchester leitet. Dass sie beinahe Biologin geworden wäre, wenn dieser widerliche Professor sie nicht versucht hätte, zu vergewaltigen. Danach verließ Hanna ihre alte Stadt und zog nach München. Neuanfang. Sonderschulpädagogik sollte es nun werden. Doch auch hier schmiss sie nach fünf vollen Semestern das Tuch. „Am liebsten würde ich jetzt in die Pflege gehen und anderen psychisch kranken Menschen helfen, so wie mir geholfen wurde“, träumt Hanna vor sich hin, während sie die nächste Nacho zwischen ihre schmalen Lippen schiebt. Sie kichert wieder, ihre Kulleraugen leuchten. Und mein Herz wird warm, wenn ich sie so sehe. Denn für diesen winzigen Moment scheint alles perfekt und in Ordnung zu sein. Diese kleinen Momente gehören uns. Keiner Uni, keinem Exfreund, keiner Zukunft. Nur uns.

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Zu welchen Menschen werden wir?

Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende meiner Nerven, meiner Geduld, meiner Kräfte. Wann hört dieser Spuk endlich auf? Das frägt sich momentan wohl jeder. Es gibt keine Branche, die nicht unter der Coronapandemie leidet. Selbst Verlage stellen nun auf Kurzarbeit um, die Anzeigen bleiben aus, auch wir Journalisten sind von unserem Wirtschaftssystem abhängig. Ganz Deutschland ist krank und leidet, die Gesellschaft erholt sich jedoch und kann endlich durchatmen. Doch die ersten kommen durch die gewonnene Zeit bereits auf dumme Gedanken. Ich habe das Gefühl, gerade jetzt (erst recht) trauen sich einige Netztrolle aus ihrem dunklen Loch, raus auf die Straße. Beim letzten Einkauf im Discounter wirft mir ein 50-Jähriger die wildesten Verschwörungstheorien um den Kopf. Frage ich ihn nach Quellen, verweist er auf die „richtigen“ Seiten im Internet, mehr sagt er nicht. Corona gebe es überhaupt nicht.

Gestern beleidigt mich eine 60-Jährige am Marktplatz als blöde Kuh, weil ich etwas Musik mit einem guten Freund gehört habe, wir saßen ganz friedlich mit Abstand auf einer Bank und aßen unser erstes Eis in dieser Saison. Als ich die Frau auf Ihre Beleidigung hinwies und mich versuchte zu erklären, kam sie mir sehr nahe, bis auf einen halben Meter und donnerte mir ganz klar und deutlich ins Gesicht: „Ich stech dich gleich ab!“ – daraufhin verständigte ich die Polizei, die 35 Minuten später eintraf, als die Frau längst verschwunden war. Meine Nachbarn alarmierten in den letzten Wochen mehrmals die Polizei, da die Musik in meiner Wohnung unerträglich laut sei. Meine Vermieterin drohte mir zudem mit der Kündigung. Meine andere direkte Nachbarin leidet seit Ende Januar extrem unter ihrer paranoiden Schizophrenie, schreit wie Gollum nachts in ihrer Wohnung, klaut unsere Post, spaziert halb nackt durch Eichstätt und erzählt einem die wildesten Storys vom Pferd, falls man sich darauf einlässt. Vergangene Woche waren nach über 50 Tagen des polizeibekannten Falls Amtsarzt sowie ärztlicher Bereitschaftsdienst da, um sich ein Bild zu machen. Doch weder Polizei, 112, Ordnungsamt, 19222, Psychiatrischer Krisendienst, 116117 noch das Gesundheitsamt können anscheinend etwas unternehmen, solange keine Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Also heißt es: Abwarten, wie bei allem anderen.

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Quelle: Unsplash

Lonesome Cowboys – 3 Tipps gegen den Corona-Blues

Das Wohnzimmer: die weite Steppe. Ganz schön einsam hier. Komm, wir streicheln die Seele.

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Dass der Bäcker-Besuch zum Highlight wird und der reine Gedanke an ein Eis in der Frühlingssonne Fernweh auslöst, hätten wir vor Corona wohl keinem geglaubt. Shit happens – jetzt müssen wir damit umgehen. Gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen eine echte Herausforderung.

Wenn deine Seele kuscheln will, dann streichel sie mit diesen Tipps:

Socia Media Detox

Eine wahre Challange, aber wichtig, um auch mal abschalten zu können: Social Media Pausen. Eine Stunde am Abend, in der ihr bewusst das Handy weglegt. Lesen, Tagebuch schreiben, Kirtzeln, das Zimmer umstellen, einen Podcast hören – was du machst, ist egal – Hauptsache, du machst es ohne dein Smartphone. Damit das auch wirklich klappt, stelle es auf den Flugmodus und leg es in eine Schublade. Wenn du dich selbst challengen willst, kannst du deine Handy freie Dosis täglich erhöhen – wie lange hälst du es aus?

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Sprich mit deinen Liebsten

Klar, eine echte Umarmung ist schöner als ein verpixeltes Winken. Aber in Zeiten von Social Distancing sind Skype, Houseparty und Telefonate wahre Retter. Nach Gesprächen mit deinen Liebsten dürftest du feststellen: Wir sind zusammen allein. Ist kacke. Aber da draußen verpasst man rein garnichts. Und Distanz schafft manchmal Nähe. Vielleicht hast du lange Zeit Treffen vor dir hergeschoben – und beobachtest jetzt, dass du mit diesen Menschen tiefe Gespräche am Telefon führst. Sich treffen war in dem Sinn noch nie so einfach.

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Corona geht vorbei – mache Pläne für die Zeit danach.

Es gibt ein Leben nach Social Distancing und Ausgangssperren. Irgendwann gehen die Schule, Uni oder Arbeit ja wieder normal weiter und dann willst du vorbereitet sein. Oder die Krise gibt dir Aufwind für ein neues Abenteuer? Was auch immer: Schmiede Pläne, die dich glücklich machen. Das geht auch von zuhause. Alles auf Anfang – nach Corona weißt du viele Dinge noch mehr zu schätzen – wie ein einfaches Eis in der Frühjahrssonne.

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Einen sehr ermutigenden Text über die Zeit nach Corona liest du hier.

Alle Bilder: Unsplash. Text: Laura Schindler für Zeitjung.de

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30 celebrities with bipolar disorder

You thought you’re alone? The only one with these crazy mood swings? No, let me calm you down. Today morning I woke up with this idea: I’ll go and google all celebrities I know and like who are affected with bipolar disorder. Here are my personal VIPs.

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1. Prinz Pi (Friedrich Kautz – german rapper).

2. Kurt Cobain (singer/songwriter for Nirvana).

3. Vincent Van Gogh (dutch painter).

4. Jimi Hendrix (american legend).

5. Dolores O’Riordan (lead singer of The Cranberries).

6. Kanye West (american rapper).

7. Ernest Hemingway (american author).

8. Yo Yo Honey Singh (indian multi talent).

9. Amy Winehouse (british heroine).

10. Winston Churchill (former british prime minister).

11. Sia Furler (australian singer/songwriter).

12. Charlie Sheen (american actor).

13. Britney Spears (american singer).

14. Robert Schumann (german musician).

15. Lily Allen (british singer).

16. Sting (singer, The Police).

17. Pete Wentz (Fall Out Boy).

18. Marilyn Monroe (american hollywood star).

19. Sinéad O’Connor (irish musician).

20. Russel Brand (british multi talent).

21. Frank Sinatra (american singer/entertainer).

22. Mel Gibson (american actor).

23. Edvard Munch (norwegian painter).

24. Demi Lovato (american singer).

25. Mariah Carey (american singer).

26. Carrie Fisher (american actrice).

27. Catherine Zeta-Jones (british actrice).

28. Chris Brown (american singer).

29. Ben Stiller (american actor).

30. Halsey (american singer).

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Drei Wochen Delirium…

… oder: Wie es wirklich ist, stationär in der Psychiatrie zu sein

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Kathi hat Panikattacken. Philipp hat chronische Schmerzen an Auge, Nase und Mund – ihm tut alles weh, beim Sehen, Riechen und Sprechen. Simon hat Depressionen und Existenzängste, seine Freundin hat ihn bereits elf Mal betrogen, mit seinem besten Freund, dem Nachbarn und seinem Cousin. Mit ihr hat er zwei Söhne, zwölf und eineinhalb Jahre alt. Er hat Angst sie zu verlieren, sie droht ihm an, dass er seine Kinder nie wiedersehen darf, wenn er die Miete nicht bezahlt. Milena hat Schizophrenie und eine sehr ausgeprägte Zwangsneurose. Sie ist fast schon katatonisch, Mimik und Gestik sind nicht mehr vorhanden. Wenn sie spricht, bewegen sich nur ihre Lippen, der Rest bleibt starr, manchmal sieht sie aus wie ein Geist. Sie kann aus Angst vor Bakterien kaum etwas anfassen, hat deshalb große Schwierigkeiten sich auf einen Stuhl zu setzen, sich die Zähne zu putzen oder zu duschen. Manchmal braucht sie eine Stunde, um solche leichten Dinge zu bewältigen. Lisa hat vieles. Sie isst kaum etwas, leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, selbstverletzendem Verhalten und Depressionen. Mittlerweile wurde sogar Borderline bei ihr diagnostiziert. Thomas hat soziale Phobie. In seiner ersten Morgenrunde gab es deswegen gleich Streit, weil er nichts sagen wollte, er verließ anschließend wütend und genervt den Raum. Marina hat Depressionen und ist Nymphomanin. Sie ist das Küken auf unserer Station. Und ich? Bei mir vermuten sie eine bipolare Störung. Vom extremen Hoch ins extreme Tief und umgekehrt.

Wir sind alle hier wegen einer Diagnose. Einem Wort, das unser Leben verändert hat. Wir sind hier, um es wieder in den Griff zu bekommen, um draußen in der großen weiten Welt wieder zu funktionieren, wieder ins System zu passen. Das verbindet uns. Es ist nicht mein erster Aufenthalt in einer Psychiatrie. Letzten Winter war ich bereits drei Monate in teilstationärer Behandlung wegen einer schweren Depression. Die Tagesstruktur in der Klinik (mit Ergotherapie, Holztherapie, Sport, Yoga, Einzelgesprächen, Gruppentherapie, Achtsamkeitsübungen) und dem Zusammenhalt zwischen den Patienten halfen mir, wieder auf die Beine zu kommen. Ich konnte Aufgaben übernehmen, konnte für die Station kochen und backen und hatte mich wieder im Griff. Meine Stimmung wurde besser und ich war so stabil, dass ich Mitte Februar entlassen werden konnte. Doch der Status Quo sollte nicht lange bleiben. Vielleicht war es das hochdosierte Antidepressivum, vielleicht war es ich, vielleicht waren es die Gene, doch Anfang April ging es mir wieder viel zu gut. Ich war aufgedreht, komplett verändert, hatte wieder 1000 Ideen, war sehr selbstbewusst und fühlte mich unglaublich stark. Ich hatte das Gefühl, alles schaffen zu können. Mir selbst war das gar nicht so bewusst, doch mein Umfeld, meine Familie, meine Freunde und mein damaliger Freund schlugen Alarm. Die Kritik habe ich nicht ernst genommen und nicht an mich rangelassen. Ich wollte nicht einsehen, dass etwas mit mir nicht stimmt, dass ich krank sein könnte, mir ging es ja gut. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich mich wieder stationär in Behandlung begab, doch ich fühlte mich gesund und wollte nicht noch ein Semester wegwerfen und im Sommer endlich studieren. Mein Freund trennte sich von mir, weil ich so verändert war und er mein Verhalten nicht verstehen konnte. Nach der Trennung holte ich mir Tinder und stürzte mich in viele Dates und Bekanntschaften, aus Selbstschutz, um abgelenkt zu sein. Ich drehte durch auf Social Media und redete wie ein Wasserfall. Ich ging kaum zur Uni und schlief jeden Tag bis mittags. Der Kompromiss war dann, nach unzähligen Notfallgesprächen mit dem psychiatrischen Krisendienst und meiner Psychiaterin, dass ich mich in den Semesterferien einweisen ließ. Und hier bin ich nun. Um in dem Dschungel von Depression, Psychose, Schizophrenie und bipolarer Störung Klarheit zu finden und medikamentös richtig eingestellt zu werden.

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Die Klinik sieht von außen aus, wie man sich eine klassische Psychiatrie vorstellt, und doch so harmlos irgendwie. Ein steinerner Eingang mit großer, alter Holztür und der Aufschrift „Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie“ begrüßt einen und verrät, wo man sich hier befindet. Innen gibt es einen gläsernen Kasten, in dem der Pförtner sitzt und die Überwachungskameras checkt. Die Gänge sind weiß und hell, lichtdurchströmt von einer Fensterfront. Es gibt einen Innenhof mit Cafeteria, Garten, Bäumen und einem Bach, in dem die Patienten rauchen dürfen und sich mit Angehörigen und Besuch treffen können. Meine Station sieht ebenfalls sehr harmlos aus. Die Türen sind aus Holz und der Boden mit Teppich ausgelegt. Links sind Waschraum, Gruppenraum, Küche und Esszimmer sowie der Stationsstützpunkt der Pflege und die Büros der Ärzte und Psychotherapeuten. Rechts befinden sich die Zimmer der Patienten, die Toiletten und Badezimmer. In meinem Zimmer sind wir zu viert, ich teile es mir mit Marina, Samira und Lisa. Samira, ein kleines aufgedrehtes Mädchen mit tamilischen Wurzeln, begrüßt mich sofort mit ihrer impulsiven Art und überfällt mich mit Fragen „Wer bist du, wie heißt du, warum bist du hier?“, mit großen, weit aufgerissenen Augen sieht sie mich voller Erwartung an. Dann fängt sie lauthals an, einen tamilischen Song, der gerade auf ihrem Handy abgespielt wird, mitzusingen und scheint sich nicht mehr für mich zu interessieren, nachdem ich brav ihre Fragen beantwortet habe. Lisa ist sehr groß und hat langes, schönes, braunes Haar. Warum sie hier ist, weiß ich noch nicht. Bei meinem Bett kann man die Höhe verstellen, ich habe ein Nachtkästchen und einen Schrank zugewiesen bekommen.

„Aufstehen!“ – Der erste richtige Tag in der Klinik beginnt für mich mit einem Weckruf um 7 Uhr. Von 7.30 bis 8.10 Uhr darf man frühstücken. Danach findet die Morgenrunde statt, in der jeder Patient kurz erzählen soll, wie es ihm geht und was seine Pläne für den heutigen Tag sind. Um 9 Uhr habe ich das erste Mal Ergotherapie mit den anderen. Diese ist leider so ganz anders, wie ich es aus meinem alten Klinikaufenthalt gekannt habe. Wir dürfen nicht in die Werkstatt und etwas Schönes basteln, denn die Urlaubsvertretung unseres Ergotherapeuten hat sich etwas Besseres einfallen lassen. Der Mann, mit dem wir uns nun beschäftigen müssen, hat kurzes grauweißes Haar, eine schmale, silberne Brille und den Blick eines Lehrers. Wir fühlen uns zurückversetzt in die Schulzeit, als er uns sagt, dass wir die kommenden drei Wochen an einem Projekt arbeiten werden, für das wir eine Präsentation samt Flyer und Plakat erstellen sollen. Immerhin haben wir uns ein interessantes Thema einfallen lassen: Aufklärung über psychische Krankheiten. Doch präsentieren dürfen wir unsere Ergebnisse letztendlich nicht. (Für mich als Journalistin unverständlich.) Ich sehe keinen Sinn in dem Projekt und es fällt mir schwer, mich dafür zu motivieren. Nach der Ergotherapie ist erst mal eine lange Pause, in der ich mich langweile, faul im Bett liege und Netflix gucke. Dann ist Visite. Meine Ärztin, eine junge, sympathische Frau mit roten Haaren und einem modernen Kleidungsstil, frägt mich wie es mir geht. „Ich sehe, Sie haben sich schon gut hier eingelebt, Frau Schindler, und Kontakt zu den anderen Patienten geknüpft, das freut mich.“ Beim Sport darf ich noch nicht mitmachen, weil es dauert, bis ich im System für alle Gruppen und Programme angemeldet bin. Also langweile ich mich sehr viel und versuche mir die Zeit zwischen Frühstück, Mittagessen und Abendessen irgendwie zu vertreiben. Ich gehe viel in den Garten und rauche, unterhalte mich dort mit anderen Patienten. Im Garten trifft man auf die unterschiedlichsten Charaktere und Diagnosen. Zum Beispiel auf Malte, der mir erzählt, dass er in seiner manischen Phase 3000 Euro im Monat im Puff gelassen hatte, obwohl er verheiratet sei und ein Kind habe. Er hatte sich ein neues Motorrad und ein Auto gekauft, und sich damit enorm verschuldet. In einer Manie ist die Libido gesteigert und man gibt sehr viel Geld aus, muss man dazu sagen. Manche Betroffene sind bis in die Millionen verschuldet. Auch ich habe viel Geld in meiner Hypomanie, die Vorstufe einer Manie, ausgegeben. Zum Glück habe ich keine Schulden aufgebaut, denke ich mir, als Malte mir seine Geschichte erzählt. Und dann ist da Marvin, auch bipolar, der jedem die Hand gibt und sich bei allen vorstellt, er erinnert mich an den Charminbär aus der Werbung für Toilettenpapier. Oder Kevin, ein klassischer Borderliner, der schon unzählige Klinikaufenthalte hinter sich hat. Obwohl er behauptet einen tiefen Selbsthass in sich zu haben, kommt er mir oft selbstverliebt und rechthaberisch vor, er mischt sich überall ein und meint, alles besser zu wissen. Natürlich gibt es auch Klinikpärchen, wie Ahmed und Nathalie, eine absolut verrückte Kombination. Alle sind sich einig, dass die beiden sich draußen, in der normalen Welt, nie gefunden hätten. Nathalie ist sehr impulsiv, ich weiß nicht, weshalb sie hier ist, doch sie braucht viel Aufmerksamkeit, trägt fast täglich eine neue Haarfarbe und zertrümmert mindestens genau so oft eine Tasse der Cafeteria im Garten. Und Ahmed, ein Türke, der stets Hoodie, Röhrenjeans und angesagte Sneaker trägt, scheint sie zu lieben.

Langeweile sollte auch die folgenden Tage und Wochen mein ständiger Begleiter sein, denn wirklich viel Programm gab es auf meiner Station nicht. Manchmal kam ich mir vor, wie ein Versuchskaninchen, an dem ein neues Medikament ausprobiert wird und das nun zur Beobachtung hier festgehalten wird. Highlights für mich waren das gemeinsame Kochen mit anderen Patienten und einer Pflegerin oder ein Beautyabend für die Mädchen auf unserer Station, bei dem wir uns Gesichtsmasken auftrugen und uns die Nägel lackierten.

Ich war auf der Station für junge Erwachsene. Das bedeutet, dass fast niemand älter als 30 Jahre war. Es bedeutet aber auch strengere Regeln. Um Punkt 20 Uhr mussten wir wieder auf Station sein und uns zurückmelden. Bis 21 Uhr durfte man nochmal in den Garten, und von 21 bis 22 Uhr gab es noch einmal drei Mal fünf Minuten, in denen man raus durfte, um zu rauchen. Um 22.30 Uhr sollte man auf dem Zimmer sein, um 23 Uhr das Licht ausmachen und weder Handy noch Laptop benutzen. Für alles Mögliche musste man auf einem ausgeteilten Wochenplan Unterschriften sammeln. Und hatte man nicht alle Unterschriften beisammen, durfte man am Wochenende nicht nach Hause fahren, so die Drohung. Ich geriet oft in Schwierigkeiten wegen der Regeln und stritt mit der Pflege. Gleich an meinem zweiten Abend bekam ich eine Verwarnung, eine „gelbe Karte“, weil wir bis 23 Uhr im Garten geblieben waren. So war ich von Anfang an bereits mit einem Fuß draußen.

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In der ersten Woche stand ich noch brav morgens um 7 Uhr auf, ging mit Philipp joggen und schaffte es, die strikten Frühstückszeiten sowie die Morgenrunde einzuhalten. In der zweiten Woche bekam ich jedoch ein neues Medikament, Quetiapin, das mich morgens unglaublich müde machte. Trotz drei Weckern und geweckt werden, schaffte ich es nicht, pünktlich aufzustehen. Ich verpasste das Frühstück und die Morgenrunde. Wenn ich manchmal heimlich noch nach 8.10 Uhr frühstücken wollte und erwischt wurde, bekam ich einen Riesen Ärger. In der Visite erwähnte ich den Ärzten gegenüber immer wieder, dass das Medikament mich so müde machte, doch es schien sie nicht zu interessieren. Schuld war nicht das Medikament, sondern ich, die nicht aus dem Bett kam. Die Pfleger verhielten sich uns gegenüber bis auf wenige Ausnahmen sehr rau und bestimmt.

Die Atmosphäre auf der Station verschlechterte sich von Tag zu Tag. Regelmäßig gab es jemanden, der ausrastete oder zusammenbrach, unter all dem Druck. Einmal, spät abends, schrie Philipp die Pflegerin so laut an, dass es die ganze Station mitbekam. Das ging zehn Minuten so und wir hatten Angst, er würde auf die Geschlossene verlegt werden. Auch ich selbst hatte mich einmal nicht unter Kontrolle. Und ich rebellierte gegen die strengen Regeln, einmal zu viel. Bis ich rausflog, aus der Psychiatrie. „Ich habe eine schlechte Nachricht für sie“, meinte meine eigentlich so nette Ärztin zu mir an meinem letzten Tag. Ich sei entlassen, weil ich nicht zur Morgenrunde und in die Vitalwertkontrolle kommen würde, weil ich mich nicht an die Regeln halten würde, weil ich ein Unruhestifter und eine Grauzonentesterin sei. Uff. In Wirklichkeit wollten sie wahrscheinlich ein neues Bett frei haben, die Warteliste ist lang, und Neuaufnahmen brachten Geld, dachte ich mir. Denn gegen Regeln hatten wir alle verstoßen. Nur war meine Behandlung bereits so gut wie abgeschlossen, ich kam stabil in die Klinik und ging stabil raus, meinte meine Ärztin, und den anderen würde es noch nicht so gut gehen, dass sie die Psychiatrie verlassen konnten.

Nun bin ich also „entlassen“, als arbeitsfähig eingestuft, zurück ins normale Leben, in die harte Realität. Raus aus der beschützenden Klinik, in der ich sein durfte, wer ich bin und auch so akzeptiert wurde. Immerhin habe ich nun Gewissheit. Ich habe eine Diagnose und sie lautet Bipolare Störung. Ich habe ein neues Medikament, einen Stimmungsstabilisierer, der verhindern soll, dass ich weder in eine Depression noch in eine Manie falle. Die Tabletten werde ich wohl mein Leben lang nehmen müssen, um wie andere, normale Menschen zu funktionieren, mitzudrehen im Hamsterrad. Denn die Krankheit läuft im Hintergrund trotzdem weiter und könnte ohne Tabletten immer wieder ausbrechen. Trotz all den extremen Höhen und Tiefen, die das letzte Jahr mit sich gebracht hat, bin ich froh und dankbar um jede einzelne Sekunde, in der ich lebe. Und auch um meine Krankheit. Sie gehört zu mir und macht mich zu dem Menschen, der ich bin. Und trotz ihr, trotz vier depressiven und zwei hypomanischen Episoden in meinem Leben, habe ich all das erreicht, was die anderen in meinem Alter auch geschafft haben. Und sie hat mich stärker gemacht, ich habe nicht aufgegeben, sondern gekämpft und bin immer wieder aufs Neue aufgestanden. Deshalb sehe ich meine Krankheit nicht als Schwäche, sondern als Stärke an.

Das Positive an meinem Aufenthalt in der Psychiatrie waren die anderen Patienten, die ich dort kennenlernen durfte und nun mit Stolz meine Freunde nennen darf. Weil sie mich besser verstehen können, als jeder Arzt, Therapeut oder Außenstehende. Weil sie dasselbe durchmachen und wissen, wie es mir damit geht. Weil jeder einzelne sein eigenes Laster mit sich trägt. Und so sind sie alle einzigartig und besonders auf ihre Art und Weise. Es fühlte sich oft wie eine Gruppentherapie an, wenn wir miteinander sprachen und unsere Geschichten untereinander austauschten. Besser als jede Visite oder Einzeltherapie. In den drei Wochen Delirium waren diese Menschen mein Zuhause.

Depression ist nicht…

Depression ist nicht „nur“ Traurigsein

Wie sich eine Depression anfühlt // Wie sich die Depression für mich anfühlt

Woran erkennt man eine Depression? Was passiert mit mir in einer Depression?

—— ACHTUNG TRIGGERWARNUNG ——

Jede Depression ist anders, jede Krankheit verläuft anders. Trotzdem möchte ich versuchen, euch einen Einblick in das Krankheitsbild zu gewähren. Erklären, was die Krankheit mit mir macht, wie sie bei mir aussieht, wie sie sich bei mir äußert. Euch einen Zugang zur Krankheit geben.

Die gängigen Klischees zur Depression sind das Traurigsein, die Isolation, schlechte Laune, Lustlosigkeit, eine graue Wolke im Kopf etc pp. Dabei ist eine Depression so viel mehr als das. Meine depressiven Phasen beginnen schleichend. Ich werde vergesslich, unzuverlässig, orientierungslos. Von Tag zu Tag schaffe ich weniger, habe ich weniger Energie. Alles wird mir ein bisschen zu viel. Ich antworte kaum noch auf Nachrichten, weil ich zu unsicher bin, mich nicht mehr entscheiden kann, was ich schreiben soll. Der getippte Entwurf wird in Frage gestellt und letztendlich meist verworfen. Ich zögere beim Schreiben und überlege minutenlang, anstatt die Nachricht einfach guten Gewissens abzuschicken. Mir fehlt die Portion Sicherheit, Klarheit und das Selbstbewusstsein im Kopf. Alles wird hinterfragt und überdacht. Bequemer und einfacher ist es dann, die Nachrichten einfach liegen zu lassen und nicht zu beantworten, denn dann kommen auch keine Antworten mehr, auf die man wiederum antworten müsste, wozu in dem Moment einfach die Kraft und Energie fehlt. Lieber ziehe ich mir passiv stundenlang irgendwelche „interessanten“ (belanglosen) Videos und Reportagen auf Facebook und Instastorys rein, anstatt aktiv tätig zu werden. Als kleine Flucht von der Realität könnte man das sehen. Dinge, die ich im Normalzustand sehr gut kann, scheine ich in der Depression verlernt zu haben oder nur noch schlecht zu können. Ich kann mich sehr schlecht konzentrieren, logisch denken, etwas erarbeiten…

Bipolar und COVID-19?

Meine Lieben, ich habe echt lange gegrübelt, ob ich was schreiben soll oder nicht, da man das Gefühl hat, man hat schon alles dazu gehört, man kann und will es nicht mehr hören und niemanden mehr damit nerven. Jeder hat seine eigene Meinung dazu und das ist meine. (Wenn es euch jetzt schon nervt, hört auf zu lesen, im Ernst!)

Die ganze COVID-19 Situation aus Sicht einer bipolar Erkrankten

Corona, Virus, COVID oder auch einfach nur „die Situation“, die aktuelle Lage keine Ahnung – es nervt euch auch schön langsam? Ihr könnt es nicht mehr hören? Ihr habt das Gefühl, ihr werdet wahnsinnig, bekommt einen Koller so eingesperrt zuhause? Hey, dann willkommen in meiner Welt, ich bin nicht die Einzige. Wenn dich das Thema jetzt schon nervt, dann hör lieber auf zu lesen, das ist nicht Sinn der Sache. Also weg mit dem Handy und Social Media Detox. Wer weiter lesen will: sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt. Für mich lässt sich trotz meiner Erkrankung die Situation natürlich nicht vermeiden und ich muss mich genauso an die Regeln halten wie alle anderen, was ich auch bestmöglich versuche einzuhalten, versprochen. Und ich lache auch über Corona und versuche mir meinen Humor zu bewahren. Aber für chronisch psychisch kranke Menschen ist die ganze Situation überhaupt nicht witzig (also die, die auch schon vor Corona psychisch krank waren). Die Versorgungslage ist momentan krass eingeschränkt, es werden nur noch Notfälle behandelt und Menschen, die wirklich suizidal sind. Was im schlimmsten Fall bedeuten kann, dass Fälle übersehen werden und Menschen Suizid begehen und das nicht wegen Corona, sondern weil es ihnen unglaublich schlecht geht und ihnen nicht geholfen werden kann, weil sie vereinsamen in ihrer Wohnung vor lauter „Social Distance Warnings“ und was weiß ich. Ich finde eure Memes an guten Tagen auch witzig, die sagen: „Was? Mein Lifestyle wird Quarantäne genannt? Haha“ Aber im Ernst: Wow, ich hoffe ihr denkt nüchtern betrachtet nicht so, dann wäre das nämlich traurig und unsolidarisch für unsere Gesellschaft. Es tut mir in der Seele weh, dass sich alle so streiten wegen Corona, Schuldzuweisungen hier und da, alle schreien sich über Social Media gefühlt an, dass man gefälligst zuhause zu bleiben hat, sonst haben sie euch ins Hirn geschissen, oder vielleicht auch nur gepupst. Deswegen hier meine To-Do-Liste für psychisch kranke Menschen oder die, die es werden wollen, wie ich mich in dieser angespannten Situation besser verhalten kann:

 

  • Tag strukturieren und planen (Listen schreiben angefangen mit Zähneputzen, regelmäßiges Essen, Dinge, die unbedingt erledigt werden müssen und dann abhaken)
  • Soziale Kontakte etwa über Social Media planen und „Video Calls“ ausmachen, damit dein Umfeld weiß, dass es dir gut geht
  • Verständnis voll sein (aber das sind wir ohnehin eh alle), wenn etwas mal nicht so funktioniert, wie es sein sollte, es gibt echt Schlimmeres! Lacht über euch!
  • Dinge erledigen, für die man sonst aufgrund der Erkrankung nie Zeit hat (ich glaube da fallen allen genuuuuug Sachen ein)
  • Wenn du mit anderen Menschen zusammen lebst: Rede offen mit ihnen über deine Erkrankung, das wird dir und ihnen helfen, dich zu verstehen, warum du in manchen Situationen so reagierst wie du reagierst, auch wenn dann so Sprüche kommen wie „du bist ja nicht ganz dicht“ – dann darfst du auch ruhig zurück mobben (finde ich), solange man noch darüber lachen kann, Humor ist ja oft die beste Medizin bei sowas
  • Codewort mit Freunden oder WG ausmachen – irgendwas lustiges, das dir signalisiert, dass es gerade zu viel wird, ohne dass du gleich genervt bist, dass du dich jetzt schon wieder zurückhalten musst, oder vielleicht einen Song (Signal: jetzt wird’s zu manisch oder zu depressiv)
  • Nett bleiben zu allen, weil jeder sein Bestes gibt in dieser Lage
  • UND GANZ WICHTIG: Social Media Detox! Wichtiger denn je, in der jetzigen Lage. Handy weg, abschalten, auf andere Gedanken kommen, etwas Schönes machen, um auf positive Gedanken zu kommen.
  • Wenn es nicht anders geht und ihr zum Beispiel nicht schlafen könnt, passt eure Medikation in Absprache mit der Ärztin oder Therapeutin ab, gegebenfalls telefonisch
  • Verliert trotz allem eure Ziele und eure Motivation nicht aus den Augen. Irgendwann geht die Schule, Uni oder Arbeit wieder normal weiter und dann wollt ihr vorbereitet sein, also fangt trotzdem jetzt schon an zu lernen, Pläne zu schreiben, alles anzufangen, was von zuhause aus geht.
  • Bewegung und Sport in einem angemessenem Rahmen (zum Beispiel Yoga zuhause mit YouTube, spazieren gehen mit Mitbewohnern, wenn erlaubt)
  • Viel trinken (vergesse ich auch immer)
  • Trotz allem gut auf sich achten (Achtsamkeitstagebuch, generell Tagebuch, um runterzukommen, Selfcare, Metime)

 

Für andere sind das selbstverständliche Sachen, aber für uns nicht. Andere lachen darüber, aber für uns ist es (über)lebenswichtig. Deswegen bitte nehmt die Sache ernst und haltet euch an alles, damit hoffentlich diese ganze Ausnahmesituation bald wieder vorbei ist. Danke. Ende.

 

*Wenn ich was vergessen habe, schreibt mir ruhig per DM, Kommentare usw. – dann ergänze ich die Liste.

Coming Out – wie ich lernte mit meiner Depression zu leben

Quelle: Yuris Alhumaydy (Unsplash)

8 Uhr. Aufstehen. Ich kann nicht aufstehen. Etwas zwingt mich an die Matratze. Alles fühlt sich so unglaublich schwer an. Minuten vergehen im Stundentakt. Es ist 10:21 Uhr. Endlich habe ich es aus dem Bett geschafft. Wie, das weiß ich nicht mehr. Taumelnd bewege ich mich in Richtung Küche, um mir etwas zu essen zu machen. Nicht etwa weil ich Hunger habe, sondern weil ich weiß, dass ich essen muss. Doch was? Es fällt mir schwer. Die einfachsten Dinge fallen mir so unglaublich schwer. Aufstehen, anziehen, fertig machen, schminken, essen. Dinge, die mir normalerweise Freude bereiten, die ich bis dato mit Leichtigkeit erledigte. Irgendwann schaffe ich es dann doch, mir schnell irgendetwas anzuziehen, mir ein Müsli herunter zu würgen und zu duschen. Ich habe die Zeit nicht im Blick, bin viel zu spät, komme verschwitzt, gehetzt und verwirrt in die Vorlesung, suche mir einen Platz in der letzten Reihe, alleine. Smalltalk würde mich momentan heillos überfordern, da entscheide ich mich lieber für die selbstgewählte Isolation. Was der Professor vorne referiert, geht einfach an mir vorbei, nichts davon bleibt hängen. Ich versuche mitzuschreiben, doch bin viel zu langsam. Ich versuche mich zu konzentrieren, doch mein Gehirn sagt nein. Es ist zu einer trägen Masse geworden, die erfolglos versucht, den semantischen Inhalt des Eingangssatzes nachzuvollziehen. Meine Blicke schweifen umher, ich verfolge fassungslos, wie meine Kommilitonen mit interessiertem Blick dem Vortrag lauschen, die Stirn runzeln oder zustimmend nicken – und ich schaffe es nicht mal die aneinander gereihten Worte in meinem Kopf zu einem stimmigen, sinnhaften Bild anzuordnen.

Essen wurde zu einer Qual für mich

Irgendwann ist die Stunde endlich vorbei und es geht in die Mensa mit den anderen. Es gibt Gnocchi. Ich war immer ein großer Fan italienischer Pasta, nun beobachte ich mich dabei, wie ich versuche eine Gnocchi nach der anderen runterzuschlucken, es fällt mir schwer. Mein Mund ist trocken, zu trocken – wann wurde das Essen für mich zu solch einer Qual? Alle sind längst fertig mit dem Essen, doch mein Teller ist noch mehr als randvoll. Ich habe das Gefühl, sie starren mich an und fragen sich, was mit mir los ist. Ist sie magersüchtig, hat sie keinen Hunger? Warum isst sie nichts? Endlich ist auch das vorbei und ich kann nach Hause gehen. Nach Hause, wo ich mich zurückziehen kann. Dort, wo ich einfach nur ins Bett gehen und die Augen vor der Welt verschließen, verdrängen kann. Ich liege da, den Blick auf die weiße Wand gerichtet. In mir Leere. Stunden um Stunden vergehen und nichts regt, nichts verändert sich. Ab und zu weine ich, doch meistens fühle ich nichts, einfach nur taumelnde Leere. Ich fühle mich so langsam und kann mich nur schwer konzentrieren, schwer zuhören. Anna, meine Mitbewohnerin, kommt in mein Zimmer, fragt besorgt, wie es mir gehe und ob sie mir helfen könne, doch ich weiß nicht, wie sie mir helfen kann. Ich weiß nicht, wie ich mir helfen kann. Oder ob das Ganze überhaupt noch einen Sinn hat.

Ich denke, dass ich nie genug war

Mir schießen so unglaublich viele Gedanken durch den Kopf. Ich denke, dass ich nie gut genug war, nie mein Bestes gegeben oder mich immer nur durchgemogelt habe. Dass ich nie irgendwo so gänzlich hineingepasst habe. So vieles tobt in mir. Ich weiß viel zu wenig. Andere lesen täglich Zeitung und verschlingen monatlich mehrere Bücher, doch ich? Ich lese viel zu wenig. Ich bin viel zu langsam, dumm und ungebildet, um auf eigenen Beinen zu stehen und zu studieren. Mein Gehirn kann diese vielen verschiedenen Ebenen, auf denen es funktionieren sollte, nicht verarbeiten. Ich sollte Sport machen. Einen Nebenjob haben. Und nebenbei studieren. Dabei weiß ich noch nicht mal, welche Fächer ich wählen soll und wie. Einkaufen in einem Supermarkt – selbst der Einkaufszettel, an den ich mich klammere, wie an einen Rettungsanker, hilft mir nicht dabei, mich in diesem Labyrinth von Regalen und Angeboten zurechtzufinden. Wie machen das denn die anderen? Ja, ich fühle mich wie eine Versagerin auf allen Ebenen! Ich will nicht mehr vor die Tür treten und irgendjemandem ins Gesicht blicken, weil ich nicht mehr zu mir selbst stehe und meinen Selbstwert verloren habe. Ich schäme mich für alles, was ich bisher in meinem Leben gemacht und gesagt habe.

Vom extremen Hoch ins Tief

Doch stopp. Wie konnte es eigentlich so weit kommen? Was ist mit mir passiert? Angefangen hatte all das im Sommer 2018. Ich hatte Deutschland für eine längere Zeit den Rücken gekehrt und gemeinsam mit meinem Freund viele, wunderbare Länder bereist. Klingt doch alles super bis jetzt. Eigentlich. Weil ich noch nicht genug vom Reisen hatte, fuhr ich danach mit einer Freundin drei Wochen mit dem Zug durch Europa. Doch nicht nur das. Ich ignorierte den wohlgemeinten Rat meiner Eltern, erst einmal wieder in Deutschland anzukommen, um die bisherigen Erfahrungen verarbeiten und sacken lassen zu können. Im Gegenteil, nach der Reise nahm ich einen Vollzeit-Ferienjob am Flughafen München an, Geld verdienen ist ja nie schlecht. Zehn Tage Schichtarbeit ohne Pause – ich gab mir die volle Dröhnung und war dabei, das letzte Quäntchen Energie in meinem Körper aufzubrauchen, ohne es zu merken. Und ich veränderte mich. Ich war aufgedreht, voller Energie, wollte viel und noch so viel mehr. Wollte am liebsten alles gleichzeitig machen. Ich plante, eine App zu gründen. Flog deshalb extra nach Berlin. Habe mich mit zwei Freundinnen so heftig gestritten, dass die Freundschaft vor dem Aus stand. Mein Partner, meine Freunde, meine Familie – fast alle waren genervt von meiner anstrengenden, impulsiven Art. Von alldem bekam ich wenig mit, ich hatte so viel Energie, gefühlt hätte ich Berge versetzen können.

Kein Schlaf, keine Freude – Plötzlich ging nichts mehr

Dann der Einbruch. Ich habe wieder einmal eine Schicht eines kranken Mitarbeiters übernommen. Ich stehe an der Kasse im Bistro und von einer auf die andere Sekunde bekomme ich Herzrasen. Mir wird schwindelig. Schweißausbrüche. Meine Gedanken reißen ab. Ich blicke auf das Wechselgeld in meiner Handfläche. Dann zu dem Kunden, der mich erwartungsvoll ansieht. Ich bekomme Panik. So etwas kenne ich nicht von mir. Ich rufe meine Mutter an, arbeite weiter, zwölf Stunden an diesem Tag. Verschwitzt und völlig erschöpft komme ich nach Hause, will einfach nur ins Bett. Doch ich kann nicht schlafen, die ganze Nacht kann ich nicht schlafen. Auch die nächste und die darauf Folgende nicht. Mein Herz rast, meine Gedanken rasen schneller. Ich mache mir Sorgen. Nie hatte ich Probleme mit dem Schlafen. Tagsüber spüre ich, dass mich meine Energie so allmählich verlässt. Ich schob die Schuld auf den Job und kündigte, in der Hoffnung, es würde dann besser. Doch nichts wurde wie vorher. Es wurde schlimmer. Nachts konnte ich nicht schlafen, tagsüber fehlte mir die Energie zum Aufräumen, Spülmaschine einräumen – für alltägliche Dinge.

Keiner konnte mir helfen

Innerlich spürte ich, dass ich wieder auf ein weiteres Tief zusteuerte, von denen ich bereits viele hatte. Ich hatte Angst. Äußerlich sagte mir eine Stimme, dass ich jetzt nicht einbrechen darf. Nicht jetzt, bevor mein Studium losgeht. Es warteten so viele Dinge auf mich, für die ich bereit und gewappnet sein musste. Ich wandte mich an meine Familie, hilfesuchend. Doch auch das höchste Maß an Mitgefühl konnte mir nicht helfen, keiner konnte mir helfen. Mit jedem Tag wurde es schlimmer, der Kloß in meinem Hals größer, das Gewicht an meinem Herz schwerer. Mit jedem Tag wurde ich unproduktiver. Kein Schlaf, keine Freude, keine Energie mehr. Zum Arzt gehen? Deswegen? Das habe ich mich nie getraut. Diesmal rief ich verzweifelt nur unter dem Vorwand ‚Schlafstörungen‘ an. Gebracht hat mir dieser erste Termin nicht viel. Das Antidepressivum half mir zwar einzuschlafen, allerdings war dies ein dumpfer, künstlicher Schlaf ohne Erholung. Das miese Gefühl tagsüber blieb. Schlechte Laune ist dafür eine Untertreibung, es ist noch so viel mehr als das. Ich brach innerlich ein, da alles, das mich einst zusammengehalten hat, plötzlich weg war. Ich fühlte mich allein gelassen. Ich konnte mich kaum konzentrieren. Ich zog mich mehr und mehr zurück, weil ich mich nicht mehr auf die Straße traute. Bis irgendwann gar nichts mehr ging. Irgendwann lag ich fast nur noch im Bett, hatte keine Energie mehr aufzustehen und mich anzuziehen.

Quelle: Sam Manns (Unsplash)

Es machte keinen Sinn so zu studieren. Ich musste erst einmal pausieren. Erst mal ausziehen und wieder zuhause einziehen. Ein Rückschritt. Dachte ich damals. Heute sehe ich es als ersten Schritt auf dem Weg zur Besserung. Allein hätte ich da nicht mehr herausgefunden. Dazu fehlte mir die Kraft. Zuhause bei meinen Eltern wurde es zunächst noch schlimmer, ich zog mich mehr und mehr zurück, wurde noch unsicherer, wenn ich einen Schritt vor die Haustür wagte. Wie sollte ich den anderen erklären, dass ich wieder zuhause bin? Dass ich bereits nach zwei Wochen mein Studium unterbrechen musste? Was sollte ich ihnen sagen, wenn sie mich fragten, wie es mir in der neuen Stadt gefiele? Ich musste lügen. Und das fiel mir verdammt schwer. Ich konnte nicht anders. Ich schämte mich. Weil ich versagt habe.

Wie ich es aus der Depression geschafft habe

Irgendwann war es so schlimm, dass ich wusste – entweder ich handle nun, oder es wird nicht mehr besser. Ich habe es in aller erster Linie für meine Familie, meinen Freund getan. Weil ich sie leiden sah, wenn sie mich ansahen. Weil ich wusste, ich würde sie verlieren, wenn ich mich selbst verliere. Also rief ich an, mit der allerletzten Kraft rief ich in einer Klinik an. Ich sage lieber Klinik als Psychiatrie, es klingt normaler, harmloser. Die Leute verstehen es besser, können besser damit umgehen. Der Schritt fiel mir nicht leicht, doch gleichzeitig war mir zu dem Zeitpunkt schon alles egal. Ich musste handeln, irgendetwas tun, damit es besser werden würde. Die ersten Wochen in der Tagesklinik des Bezirkskrankenhauses (so heißt es offiziell) gingen zäh voran. Ich war sehr planlos, konnte mich schwer auf den Ablauf konzentrieren und ihm folgen. Ich klammerte mich an die anderen Patienten und folgte ihnen überall hin. Lesen, mich selbst orientieren, das war noch zu viel für mich. Medikamententraining, Ergotherapie, Sport, Einzelgespräche, Gruppentherapie, Holztherapie, Musiktherapie, Yoga – ich hatte ein volles Programm, im Gegensatz zu meiner Zeit zuhause, als ich nur im Bett lag und maximal aufs Handy blickte. Der strukturierte Tagesablauf und der Kontakt zu anderen Menschen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten, half mir allmählich, mich aus meinem Loch zu ziehen. Es ging zäh voran, es dauerte lange. Doch irgendwann kam mein persönlicher Break-Even-Point. Nach über zwei Monaten in der Klinik ging es endlich bergauf, ich konnte wieder lachen, mich freuen, Dinge planen, kochen, Spaß haben. Es fühlte sich gut an, zu leben. Leben zu dürfen. Ich hatte wieder Hoffnung, spürte Freude und hatte Lust, weiterzumachen. Endlich wurde es besser. Wenn auch mit Unterstützung durch Medikamente. Aber das war mir egal – Hauptsache es ging mir wieder gut, nach all diesen schweren Monaten.

Wie ich in Zukunft mit der Krankheit leben werde

Doch wie mache ich jetzt weiter? Was habe ich aus dieser Höllenfahrt gelernt? Momentan verbringe ich die Tage zuhause, mit unglaublich viel Energie, ich bin nicht ausgelastet, versuche mich so gut es geht runter zu bremsen, um nicht schon wieder ins nächste Tief zu fallen. Ich koche, treibe Sport, mache Yoga, treffe Freunde, schreibe, versuche mich abzulenken. Wenn alles gut läuft, darf ich bald eine Langzeit-Reha im Allgäu antreten, in der ich mehr über mich und meine Krankheit lernen werde. Und lerne, wie ich damit in Zukunft leben und umgehen kann. Mich stabilisieren kann, wieder zu mir zurückfinden kann. Und dann? Dann möchte ich gerne zurück an die Uni, allen zeigen, was ich kann. Meinen Traum verwirklichen. Selbstständig werden. Und vor allem eins: gesund bleiben.

Hier gehts zum Original-Artikel auf Zeitjung.de

Die Seele verstehen

Kinder- und Jugendpsychiaterin Petra Stemplinger klärt auf und greift Tabuthema an

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Sabine Hauptmann (l.) und Petra Stemplinger vom Kinderkrankenhaus Landshut gestalteten den Vortrag zum Thema „Seele“.

 

Großes Interesse herrschte sowohl unter Fachleuten als auch bei Eltern beim Vortrag „Was ist die Seele und wie bleibt sie gesund“ am Montagabend im Landratsamt. Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Petra Stemplinger gab dabei Gelegenheit, den Begriff „Seele“ zu begreifen und erklärte, wie man Kinder schon früh für das Tabuthema sensibilisieren kann.

„Viele Kinder sind heutzutage großen Belastungen wie Schulstress, Trennung der Eltern oder Mobbing ausgesetzt“, sagte Landrat Josef Hauner in seiner Ansprache. Oft helfe es dabei schon, sich zu fragen, ob das Kind auf die richtige Schule geht, um eine Hauptbelastung zu nehmen. „Die Anzahl der Menschen mit psychischen Störungen geht nach oben. Dem Landkreis Freising ist es daher ein großes Anliegen, hier alles zu tun, um möglichst präventiv und frühzeitig tätig zu sein“, erklärte Hauner.

Petra Stemplinger ist Kinder- und Jugendpsychiaterin, Psychotherapeutin sowie ärztliche Leitung des Medizinischen Versorgungszentrums am Kinderkrankenhaus in Landshut. Zusammen mit der Diplomgestalterin und Kunsttherapeutin Sabine Hauptmann stellte sie den Zuhörern das von ihr entwickelte „ich.live-Modell“ anhand von Grafiken und einer Flip-Chart vor. Stemplinger ging zuerst auf den Begriff „Seele“ ein: Früher habe sich die Religion mit Fragen über die Seele beschäftigt, heute nehme eher die Wissenschaft diese Position ein. Stemplinger hatten sowohl Religion als auch die Wissenschaft in der Schule fasziniert, nun will sie als Psychotherapeutin beides zusammenführen. Dabei fand die erfahrene Psychiaterin erst über Umwege zu ihrem eigentlichen Beruf: Nach einem sozialen Jahr im Waldorfkindergarten folgte eine pädagogische Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin und ein Philosophiestudium, bevor sie Medizin studierte und noch die Psychotherapeutenausbildung absolvierte.

„Alle Eindrücke, die wir erfahren, prasseln ungefiltert auf unseren Körper ein, und wir bringen sie automatisch verbal zum Ausdruck“, erklärte die Ärztin. Unbewusste Körpersymptome wie etwa Kopf-, Bauch- oder Gelenkschmerzen spiegeln so das Befinden der Seele wider. „Denken ist kein Automatismus, der Mensch kann es selber führen“, so Stemplinger. Aus Gedanken werden so Gewohnheiten, und daraus bildet sich der Charakter.
Bewusst habe sie sich mit ihrer Praxis im Kinderkrankenhaus angesiedelt, sagte Stemplinger. Denn, wenn die Ärzte bei Kindern mit Bauch- oder Knieschmerzen nach gründlichem Abchecken nichts finden, kämen sie zu ihr. „Die Patienten rennen meist von Arzt zu Arzt und ihnen wird gesagt, dass sie nichts haben. Dabei wurzelt die Ursache in der Seele.“ Wenn den Kindern dann gesagt wird „Du musst jetzt mal zum Psychiater“ sind die meisten beschämt und halten sich bedeckt. Mit ihrem ich.live-Modell möchte Stemplinger die Kinder für die psychotherapeutische Arbeit gewinnen, ihnen auf einfache Weise erklären, was die Seele ist und so einen Zugang zu ihnen finden.

In ihrem Modell zeichnet sie zuerst einen Menschen und teilt diesen in drei Komponenten ein: Denken, Fühlen und Wollen. „Das Fühlen spielt sich am ganzen Körper ab: im Bauch, Herz, durch die Atmung. Fühlen ist ohne Körper gar nicht zu denken“, so die Psychiaterin. „Der Kopf kann viel denken, aber ohne Wollen kann er nicht handeln.“ Petra Stemplinger erklärte, dass es befreiend wirke, wenn man von jemandem einen „Ausdruck“ für ein bestimmtes Gefühl bekomme, sodass man es „begreifen“ kann und sich verstanden und nicht alleine fühlt.

Den Begriff der Psychosomatik untermalte sie mit folgendem Beispiel: „Wir haben ein Problem, wenn wir plötzlich wieder darüber nachdenken, wie etwas funktioniert, das uns längst in Fleisch und Blut übergegangen ist.“ Damit spielte sie auf automatisierte Vorgänge wie Gehen, Sprechen oder Schwimmen an. „Wer ist der Chef in unserer Seele?“, fragte Stemplinger dann und zeichnete über dem Menschen die Worte Ego, Ich und Emo. Eine gesunde Balance der drei sei ein guter Kompass für das richtige Selbstbewusstsein. „Zu viel von einem ist nie gut.“

Schließlich erklärte Stemplinger die Bedeutung des Vertrauenskreises, der durch die Eltern, Geschwister und engsten Freunde gebildet wird. „Geschieht hier ein Vertrauensbruch, hat das Auswirkungen auf die Seele. Besonders gravierend ist ein Bruch bei den Eltern“, so Stemplinger. Den Spruch „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“ könne man im Seelischen umdrehen, Vertrauen sei die Basis für Bindungsqualität und eine gesunde Seele.

Zum Schluss ging die Psychotherapeutin auf die Frage „Was hält die Seele gesund?“ ein. Hier stemmen wieder drei Komponenten das Gefühl von Stimmigkeit: Verstehen, was mit einem passiert (Denken); Dem Geschehen Bedeutung zumessen (Fühlen) und es handhaben (Wollen). Stemplinger plädierte am Ende ihres Vortrages, dass Schule nicht nur ein Ort des Wissens, sondern auch der Erlebnispädagogik sein sollte. Richtige Konfliktlösung und auch eine frühe Sensibilsierung für das Thema psychische Gesundheit sollten dabei Bestandteil sein, um raus aus der Tabu-Ecke zu kommen. Im Anschluss war noch Zeit für Fragen, Austausch und Diskussion, die die Zuhörer auch rege nutzten. Die Mitarbeiter des Gesundheitsamts machten den Vortrag durch eine gelungene Organisation mit Saftcocktails und Früchten sowie einer Verlosung zu einem runden Abend, bei dem sehr aufs „Wohlbefinden“ geachtet wurde.