… oder: Wie es wirklich ist, stationär in der Psychiatrie zu sein

Kathi hat Panikattacken. Philipp hat chronische Schmerzen an Auge, Nase und Mund – ihm tut alles weh, beim Sehen, Riechen und Sprechen. Simon hat Depressionen und Existenzängste, seine Freundin hat ihn bereits elf Mal betrogen, mit seinem besten Freund, dem Nachbarn und seinem Cousin. Mit ihr hat er zwei Söhne, zwölf und eineinhalb Jahre alt. Er hat Angst sie zu verlieren, sie droht ihm an, dass er seine Kinder nie wiedersehen darf, wenn er die Miete nicht bezahlt. Milena hat Schizophrenie und eine sehr ausgeprägte Zwangsneurose. Sie ist fast schon katatonisch, Mimik und Gestik sind nicht mehr vorhanden. Wenn sie spricht, bewegen sich nur ihre Lippen, der Rest bleibt starr, manchmal sieht sie aus wie ein Geist. Sie kann aus Angst vor Bakterien kaum etwas anfassen, hat deshalb große Schwierigkeiten sich auf einen Stuhl zu setzen, sich die Zähne zu putzen oder zu duschen. Manchmal braucht sie eine Stunde, um solche leichten Dinge zu bewältigen. Lisa hat vieles. Sie isst kaum etwas, leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, selbstverletzendem Verhalten und Depressionen. Mittlerweile wurde sogar Borderline bei ihr diagnostiziert. Thomas hat soziale Phobie. In seiner ersten Morgenrunde gab es deswegen gleich Streit, weil er nichts sagen wollte, er verließ anschließend wütend und genervt den Raum. Marina hat Depressionen und ist Nymphomanin. Sie ist das Küken auf unserer Station. Und ich? Bei mir vermuten sie eine bipolare Störung. Vom extremen Hoch ins extreme Tief und umgekehrt.
Wir sind alle hier wegen einer Diagnose. Einem Wort, das unser Leben verändert hat. Wir sind hier, um es wieder in den Griff zu bekommen, um draußen in der großen weiten Welt wieder zu funktionieren, wieder ins System zu passen. Das verbindet uns. Es ist nicht mein erster Aufenthalt in einer Psychiatrie. Letzten Winter war ich bereits drei Monate in teilstationärer Behandlung wegen einer schweren Depression. Die Tagesstruktur in der Klinik (mit Ergotherapie, Holztherapie, Sport, Yoga, Einzelgesprächen, Gruppentherapie, Achtsamkeitsübungen) und dem Zusammenhalt zwischen den Patienten halfen mir, wieder auf die Beine zu kommen. Ich konnte Aufgaben übernehmen, konnte für die Station kochen und backen und hatte mich wieder im Griff. Meine Stimmung wurde besser und ich war so stabil, dass ich Mitte Februar entlassen werden konnte. Doch der Status Quo sollte nicht lange bleiben. Vielleicht war es das hochdosierte Antidepressivum, vielleicht war es ich, vielleicht waren es die Gene, doch Anfang April ging es mir wieder viel zu gut. Ich war aufgedreht, komplett verändert, hatte wieder 1000 Ideen, war sehr selbstbewusst und fühlte mich unglaublich stark. Ich hatte das Gefühl, alles schaffen zu können. Mir selbst war das gar nicht so bewusst, doch mein Umfeld, meine Familie, meine Freunde und mein damaliger Freund schlugen Alarm. Die Kritik habe ich nicht ernst genommen und nicht an mich rangelassen. Ich wollte nicht einsehen, dass etwas mit mir nicht stimmt, dass ich krank sein könnte, mir ging es ja gut. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich mich wieder stationär in Behandlung begab, doch ich fühlte mich gesund und wollte nicht noch ein Semester wegwerfen und im Sommer endlich studieren. Mein Freund trennte sich von mir, weil ich so verändert war und er mein Verhalten nicht verstehen konnte. Nach der Trennung holte ich mir Tinder und stürzte mich in viele Dates und Bekanntschaften, aus Selbstschutz, um abgelenkt zu sein. Ich drehte durch auf Social Media und redete wie ein Wasserfall. Ich ging kaum zur Uni und schlief jeden Tag bis mittags. Der Kompromiss war dann, nach unzähligen Notfallgesprächen mit dem psychiatrischen Krisendienst und meiner Psychiaterin, dass ich mich in den Semesterferien einweisen ließ. Und hier bin ich nun. Um in dem Dschungel von Depression, Psychose, Schizophrenie und bipolarer Störung Klarheit zu finden und medikamentös richtig eingestellt zu werden.

Die Klinik sieht von außen aus, wie man sich eine klassische Psychiatrie vorstellt, und doch so harmlos irgendwie. Ein steinerner Eingang mit großer, alter Holztür und der Aufschrift „Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie“ begrüßt einen und verrät, wo man sich hier befindet. Innen gibt es einen gläsernen Kasten, in dem der Pförtner sitzt und die Überwachungskameras checkt. Die Gänge sind weiß und hell, lichtdurchströmt von einer Fensterfront. Es gibt einen Innenhof mit Cafeteria, Garten, Bäumen und einem Bach, in dem die Patienten rauchen dürfen und sich mit Angehörigen und Besuch treffen können. Meine Station sieht ebenfalls sehr harmlos aus. Die Türen sind aus Holz und der Boden mit Teppich ausgelegt. Links sind Waschraum, Gruppenraum, Küche und Esszimmer sowie der Stationsstützpunkt der Pflege und die Büros der Ärzte und Psychotherapeuten. Rechts befinden sich die Zimmer der Patienten, die Toiletten und Badezimmer. In meinem Zimmer sind wir zu viert, ich teile es mir mit Marina, Samira und Lisa. Samira, ein kleines aufgedrehtes Mädchen mit tamilischen Wurzeln, begrüßt mich sofort mit ihrer impulsiven Art und überfällt mich mit Fragen „Wer bist du, wie heißt du, warum bist du hier?“, mit großen, weit aufgerissenen Augen sieht sie mich voller Erwartung an. Dann fängt sie lauthals an, einen tamilischen Song, der gerade auf ihrem Handy abgespielt wird, mitzusingen und scheint sich nicht mehr für mich zu interessieren, nachdem ich brav ihre Fragen beantwortet habe. Lisa ist sehr groß und hat langes, schönes, braunes Haar. Warum sie hier ist, weiß ich noch nicht. Bei meinem Bett kann man die Höhe verstellen, ich habe ein Nachtkästchen und einen Schrank zugewiesen bekommen.
„Aufstehen!“ – Der erste richtige Tag in der Klinik beginnt für mich mit einem Weckruf um 7 Uhr. Von 7.30 bis 8.10 Uhr darf man frühstücken. Danach findet die Morgenrunde statt, in der jeder Patient kurz erzählen soll, wie es ihm geht und was seine Pläne für den heutigen Tag sind. Um 9 Uhr habe ich das erste Mal Ergotherapie mit den anderen. Diese ist leider so ganz anders, wie ich es aus meinem alten Klinikaufenthalt gekannt habe. Wir dürfen nicht in die Werkstatt und etwas Schönes basteln, denn die Urlaubsvertretung unseres Ergotherapeuten hat sich etwas Besseres einfallen lassen. Der Mann, mit dem wir uns nun beschäftigen müssen, hat kurzes grauweißes Haar, eine schmale, silberne Brille und den Blick eines Lehrers. Wir fühlen uns zurückversetzt in die Schulzeit, als er uns sagt, dass wir die kommenden drei Wochen an einem Projekt arbeiten werden, für das wir eine Präsentation samt Flyer und Plakat erstellen sollen. Immerhin haben wir uns ein interessantes Thema einfallen lassen: Aufklärung über psychische Krankheiten. Doch präsentieren dürfen wir unsere Ergebnisse letztendlich nicht. (Für mich als Journalistin unverständlich.) Ich sehe keinen Sinn in dem Projekt und es fällt mir schwer, mich dafür zu motivieren. Nach der Ergotherapie ist erst mal eine lange Pause, in der ich mich langweile, faul im Bett liege und Netflix gucke. Dann ist Visite. Meine Ärztin, eine junge, sympathische Frau mit roten Haaren und einem modernen Kleidungsstil, frägt mich wie es mir geht. „Ich sehe, Sie haben sich schon gut hier eingelebt, Frau Schindler, und Kontakt zu den anderen Patienten geknüpft, das freut mich.“ Beim Sport darf ich noch nicht mitmachen, weil es dauert, bis ich im System für alle Gruppen und Programme angemeldet bin. Also langweile ich mich sehr viel und versuche mir die Zeit zwischen Frühstück, Mittagessen und Abendessen irgendwie zu vertreiben. Ich gehe viel in den Garten und rauche, unterhalte mich dort mit anderen Patienten. Im Garten trifft man auf die unterschiedlichsten Charaktere und Diagnosen. Zum Beispiel auf Malte, der mir erzählt, dass er in seiner manischen Phase 3000 Euro im Monat im Puff gelassen hatte, obwohl er verheiratet sei und ein Kind habe. Er hatte sich ein neues Motorrad und ein Auto gekauft, und sich damit enorm verschuldet. In einer Manie ist die Libido gesteigert und man gibt sehr viel Geld aus, muss man dazu sagen. Manche Betroffene sind bis in die Millionen verschuldet. Auch ich habe viel Geld in meiner Hypomanie, die Vorstufe einer Manie, ausgegeben. Zum Glück habe ich keine Schulden aufgebaut, denke ich mir, als Malte mir seine Geschichte erzählt. Und dann ist da Marvin, auch bipolar, der jedem die Hand gibt und sich bei allen vorstellt, er erinnert mich an den Charminbär aus der Werbung für Toilettenpapier. Oder Kevin, ein klassischer Borderliner, der schon unzählige Klinikaufenthalte hinter sich hat. Obwohl er behauptet einen tiefen Selbsthass in sich zu haben, kommt er mir oft selbstverliebt und rechthaberisch vor, er mischt sich überall ein und meint, alles besser zu wissen. Natürlich gibt es auch Klinikpärchen, wie Ahmed und Nathalie, eine absolut verrückte Kombination. Alle sind sich einig, dass die beiden sich draußen, in der normalen Welt, nie gefunden hätten. Nathalie ist sehr impulsiv, ich weiß nicht, weshalb sie hier ist, doch sie braucht viel Aufmerksamkeit, trägt fast täglich eine neue Haarfarbe und zertrümmert mindestens genau so oft eine Tasse der Cafeteria im Garten. Und Ahmed, ein Türke, der stets Hoodie, Röhrenjeans und angesagte Sneaker trägt, scheint sie zu lieben.
Langeweile sollte auch die folgenden Tage und Wochen mein ständiger Begleiter sein, denn wirklich viel Programm gab es auf meiner Station nicht. Manchmal kam ich mir vor, wie ein Versuchskaninchen, an dem ein neues Medikament ausprobiert wird und das nun zur Beobachtung hier festgehalten wird. Highlights für mich waren das gemeinsame Kochen mit anderen Patienten und einer Pflegerin oder ein Beautyabend für die Mädchen auf unserer Station, bei dem wir uns Gesichtsmasken auftrugen und uns die Nägel lackierten.
Ich war auf der Station für junge Erwachsene. Das bedeutet, dass fast niemand älter als 30 Jahre war. Es bedeutet aber auch strengere Regeln. Um Punkt 20 Uhr mussten wir wieder auf Station sein und uns zurückmelden. Bis 21 Uhr durfte man nochmal in den Garten, und von 21 bis 22 Uhr gab es noch einmal drei Mal fünf Minuten, in denen man raus durfte, um zu rauchen. Um 22.30 Uhr sollte man auf dem Zimmer sein, um 23 Uhr das Licht ausmachen und weder Handy noch Laptop benutzen. Für alles Mögliche musste man auf einem ausgeteilten Wochenplan Unterschriften sammeln. Und hatte man nicht alle Unterschriften beisammen, durfte man am Wochenende nicht nach Hause fahren, so die Drohung. Ich geriet oft in Schwierigkeiten wegen der Regeln und stritt mit der Pflege. Gleich an meinem zweiten Abend bekam ich eine Verwarnung, eine „gelbe Karte“, weil wir bis 23 Uhr im Garten geblieben waren. So war ich von Anfang an bereits mit einem Fuß draußen.

In der ersten Woche stand ich noch brav morgens um 7 Uhr auf, ging mit Philipp joggen und schaffte es, die strikten Frühstückszeiten sowie die Morgenrunde einzuhalten. In der zweiten Woche bekam ich jedoch ein neues Medikament, Quetiapin, das mich morgens unglaublich müde machte. Trotz drei Weckern und geweckt werden, schaffte ich es nicht, pünktlich aufzustehen. Ich verpasste das Frühstück und die Morgenrunde. Wenn ich manchmal heimlich noch nach 8.10 Uhr frühstücken wollte und erwischt wurde, bekam ich einen Riesen Ärger. In der Visite erwähnte ich den Ärzten gegenüber immer wieder, dass das Medikament mich so müde machte, doch es schien sie nicht zu interessieren. Schuld war nicht das Medikament, sondern ich, die nicht aus dem Bett kam. Die Pfleger verhielten sich uns gegenüber bis auf wenige Ausnahmen sehr rau und bestimmt.
Die Atmosphäre auf der Station verschlechterte sich von Tag zu Tag. Regelmäßig gab es jemanden, der ausrastete oder zusammenbrach, unter all dem Druck. Einmal, spät abends, schrie Philipp die Pflegerin so laut an, dass es die ganze Station mitbekam. Das ging zehn Minuten so und wir hatten Angst, er würde auf die Geschlossene verlegt werden. Auch ich selbst hatte mich einmal nicht unter Kontrolle. Und ich rebellierte gegen die strengen Regeln, einmal zu viel. Bis ich rausflog, aus der Psychiatrie. „Ich habe eine schlechte Nachricht für sie“, meinte meine eigentlich so nette Ärztin zu mir an meinem letzten Tag. Ich sei entlassen, weil ich nicht zur Morgenrunde und in die Vitalwertkontrolle kommen würde, weil ich mich nicht an die Regeln halten würde, weil ich ein Unruhestifter und eine Grauzonentesterin sei. Uff. In Wirklichkeit wollten sie wahrscheinlich ein neues Bett frei haben, die Warteliste ist lang, und Neuaufnahmen brachten Geld, dachte ich mir. Denn gegen Regeln hatten wir alle verstoßen. Nur war meine Behandlung bereits so gut wie abgeschlossen, ich kam stabil in die Klinik und ging stabil raus, meinte meine Ärztin, und den anderen würde es noch nicht so gut gehen, dass sie die Psychiatrie verlassen konnten.
Nun bin ich also „entlassen“, als arbeitsfähig eingestuft, zurück ins normale Leben, in die harte Realität. Raus aus der beschützenden Klinik, in der ich sein durfte, wer ich bin und auch so akzeptiert wurde. Immerhin habe ich nun Gewissheit. Ich habe eine Diagnose und sie lautet Bipolare Störung. Ich habe ein neues Medikament, einen Stimmungsstabilisierer, der verhindern soll, dass ich weder in eine Depression noch in eine Manie falle. Die Tabletten werde ich wohl mein Leben lang nehmen müssen, um wie andere, normale Menschen zu funktionieren, mitzudrehen im Hamsterrad. Denn die Krankheit läuft im Hintergrund trotzdem weiter und könnte ohne Tabletten immer wieder ausbrechen. Trotz all den extremen Höhen und Tiefen, die das letzte Jahr mit sich gebracht hat, bin ich froh und dankbar um jede einzelne Sekunde, in der ich lebe. Und auch um meine Krankheit. Sie gehört zu mir und macht mich zu dem Menschen, der ich bin. Und trotz ihr, trotz vier depressiven und zwei hypomanischen Episoden in meinem Leben, habe ich all das erreicht, was die anderen in meinem Alter auch geschafft haben. Und sie hat mich stärker gemacht, ich habe nicht aufgegeben, sondern gekämpft und bin immer wieder aufs Neue aufgestanden. Deshalb sehe ich meine Krankheit nicht als Schwäche, sondern als Stärke an.
Das Positive an meinem Aufenthalt in der Psychiatrie waren die anderen Patienten, die ich dort kennenlernen durfte und nun mit Stolz meine Freunde nennen darf. Weil sie mich besser verstehen können, als jeder Arzt, Therapeut oder Außenstehende. Weil sie dasselbe durchmachen und wissen, wie es mir damit geht. Weil jeder einzelne sein eigenes Laster mit sich trägt. Und so sind sie alle einzigartig und besonders auf ihre Art und Weise. Es fühlte sich oft wie eine Gruppentherapie an, wenn wir miteinander sprachen und unsere Geschichten untereinander austauschten. Besser als jede Visite oder Einzeltherapie. In den drei Wochen Delirium waren diese Menschen mein Zuhause.