Living in the filter bubble

Seifenblasenwelt // Filter Bubble – heute aktueller denn je (Archivtext 2016)

Egal ob Flüchtlingsdebatte, Klimakrise oder jetzt Corona. Ihr kennt sie alle und seid mittlerweile gut mit ihr vertraut – der sogenannten Filter Bubble, die Blase, die wir uns in unserem Umfeld einerseits virtuell (durch soziale Netzwerke), aber auch in der Realität bilden. Lasst uns heute doch mal kurz ausbrechen aus der Blase!

————————————————————————————-

Auf meiner letzten Fortbildung gab es einen Tag, der sich dem Thema „Online-Journalismus“ widmete. Im Laufe des Tages stolperten wir dabei über den Begriff „Filter Bubble“. Dieser bedeutet, dass wir in den sozialen Medien alle mehr oder weniger in unserer eigenen „Seifenblasenwelt“ leben. Warum? Ganz einfach. Durch Facebook, Twitter und Co. manipulieren wir uns quasi selbst bzw. werden manipuliert. Wir steuern, was wir sehen wollen und umgekehrt werden uns die Inhalte zugesteuert. Uns werden hauptsächlich nur Inhalte von Seiten und Posts angezeigt, denen wir mal unser „Gefällt mir“ gegeben haben, die wir also „geliket“ haben. Was wir liken, merkt sich Facebook und schaltet uns so gezielt Werbung und ähnliche Inhalte zu. So bilden wir quasi unsere eigenen Filter und unsere Seifenblasenwelt. In einer Gesellschaft, in der sich die meisten jungen Menschen aber fast nur noch durch die Kanäle sozialer Medien über das aktuelle Tagesgeschehen informieren, ist das mehr als bedenklich. Ein Beispiel: Ein rechtsgesinnter Jugendlicher bekommt immer wieder flüchtlingsfeindliche Inhalte auf seiner Startseite angezeigt, Facebook merkt sich sein Like-Verhalten und reagiert dementsprechend. Auch sein soziales Umfeld auf Facebook teilt dieses Gedankengut. Der Jugendliche wird in seiner Haltung also immer wieder bekräftigt, da 90 Prozent der Artikel eine negative Haltung proklamieren – auch wenn die Realität vielleicht ganz anders aussieht.

yannic-kress-j0DdNCITJmo-unsplash

Stößt er mal auf einen anders bewerteten Artikel (die restlichen zehn Prozent), so ist er ganz klar der Meinung, dass das, was da drin steht, ja gar nicht stimmen kann, denn die 90 Prozent würden schließlich etwas ganz anderes behaupten (Lügenpresse ahoi). Dieser junge Mensch wird dann nur schwer von seiner Meinung abzubringen sein. Doch was heißt das konkret für uns? Das Phänomen der „Filter Bubble“ stellt eine große Gefahr für den Journalismus im Allgemeinen dar. Ist Objektivität im Zeitalter sozialer Medien überhaupt noch möglich? Sogar ich selbst habe mich an dem Tag dabei erwischt, in meiner eigenen „Filter Bubble“ festzusitzen. Zwar habe ich sehr viele Nachrichtenkanäle abonniert, aber mit Sicherheit nicht alle. Und dann wird mir trotzdem immer wieder meine Meinung zugespielt. Manchmal ist es dann vielleicht doch besser, wieder zur guten alten Printausgabe zu greifen und von hinten bis vorne objektive „nicht gesteuerte“ Nachrichten zu lesen.

Leben mit Migräne…

… oder: Wie mein erstes Konzert (One Republic) zum Horrortrip wurde.

(Die Migräne begleitet mich nun seit vielen Jahren durch mein tägliches Leben. Oft kann ich durch schwere Attacken nur beschränkt Leistung abrufen, schaffe weniger als an „normalen“ Tagen und als die anderen. An manchen Tagen legt mich die Migräne auch komplett lahm, sodass gar nichts mehr geht. Meist verlaufen diese Tage recht unspektakulär: Ich liege nur im Bett, mit dem Kopf auf der Seite des pochenden Schmerzes, mein Zimmer abgedunkelt. An einen Tag kann ich mich jedoch gut erinnern, weil ich im Nachhinein auch gerne darüber lache – ja, man glaubt es kaum!)

michael-discenza-MxfcoxycH_Y-unsplash

Ich hatte mit einer guten Freundin Karten für ein One Republic Konzert in Nürnberg. Kurz bevor es so weit war, entschlossen wir uns dazu, mit einem Bekannten, den ich zuvor auf einem Festival kennengelernt hatte, auf das Konzert zu fahren. Seine Cousine wohnte zu der Zeit in Nürnberg, und er lud uns ein, dort mit ihm zu übernachten. Wir hatten einen richtig guten Abend, feierten zur Musik und tranken ein, zwei Bier und Jägermeister. Ein, zwei für mich zu viel. Denn ich hatte seit Wochen nichts mehr getrunken und war nicht mehr an den Alkohol gewöhnt, mein Kopf wohl auch nicht. Am nächsten Morgen gab er mir das auch zu spüren. Mir war übel (nein, kein Kater!) und ich konnte nicht aufstehen. Ich musste nur den kleinen Finger an meiner rechten Hand anheben und mir wurde kotzübel. Also erst mal liegen bleiben, abwarten und weiter ausruhen. Nach einiger Zeit, als ich mich wieder etwas bewegen konnte, stand ich auf und ging zum Klo. Natürlich war es schon wieder zu spät. Natürlich musste ich mich übergeben. In einer völlig fremden Wohnung. Gott, das war mir so peinlich! Nachdem unsere Gastgeberin uns a) völlig fremd und b) trotzdem unfassbar herzlich zu uns war.

Und wenn es einmal losgeht, dann hört es einfach nicht mehr auf. Es will nicht aufhören. Unsere liebe Gastgeberin machte Frühstück, wir saßen gemeinsam am Tisch und alle meinten, ich solle unbedingt etwas essen, das helfe. Bestimmt. Nein, sagte mein Kopf, den die Erfahrung etwas anderes gelehrt hatte. Aber gut, ich aß einen Bissen von meinem Toast mit Marmalade. Bumm. Ich musste aufstehen und direkt zum Klo. Ich kam zurück. Und musste wieder aufs Klo. Das ging so ein paar Stunden, bis sich mein Magen irgendwann etwas stabilisiert hatte und ich wieder in der Lage war, mein Auto sicher nach Hause zu fahren. Und all das geschah auch noch zwei Tage vor meiner Abgabe der Seminararbeit im Abiturjahr… Holy Migraine.

amy-shamblen-lJt-3NUFng4-unsplash

 

Drei Wochen Delirium…

… oder: Wie es wirklich ist, stationär in der Psychiatrie zu sein

engin-akyurt-_09d_CaPvjg-unsplash

Kathi hat Panikattacken. Philipp hat chronische Schmerzen an Auge, Nase und Mund – ihm tut alles weh, beim Sehen, Riechen und Sprechen. Simon hat Depressionen und Existenzängste, seine Freundin hat ihn bereits elf Mal betrogen, mit seinem besten Freund, dem Nachbarn und seinem Cousin. Mit ihr hat er zwei Söhne, zwölf und eineinhalb Jahre alt. Er hat Angst sie zu verlieren, sie droht ihm an, dass er seine Kinder nie wiedersehen darf, wenn er die Miete nicht bezahlt. Milena hat Schizophrenie und eine sehr ausgeprägte Zwangsneurose. Sie ist fast schon katatonisch, Mimik und Gestik sind nicht mehr vorhanden. Wenn sie spricht, bewegen sich nur ihre Lippen, der Rest bleibt starr, manchmal sieht sie aus wie ein Geist. Sie kann aus Angst vor Bakterien kaum etwas anfassen, hat deshalb große Schwierigkeiten sich auf einen Stuhl zu setzen, sich die Zähne zu putzen oder zu duschen. Manchmal braucht sie eine Stunde, um solche leichten Dinge zu bewältigen. Lisa hat vieles. Sie isst kaum etwas, leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, selbstverletzendem Verhalten und Depressionen. Mittlerweile wurde sogar Borderline bei ihr diagnostiziert. Thomas hat soziale Phobie. In seiner ersten Morgenrunde gab es deswegen gleich Streit, weil er nichts sagen wollte, er verließ anschließend wütend und genervt den Raum. Marina hat Depressionen und ist Nymphomanin. Sie ist das Küken auf unserer Station. Und ich? Bei mir vermuten sie eine bipolare Störung. Vom extremen Hoch ins extreme Tief und umgekehrt.

Wir sind alle hier wegen einer Diagnose. Einem Wort, das unser Leben verändert hat. Wir sind hier, um es wieder in den Griff zu bekommen, um draußen in der großen weiten Welt wieder zu funktionieren, wieder ins System zu passen. Das verbindet uns. Es ist nicht mein erster Aufenthalt in einer Psychiatrie. Letzten Winter war ich bereits drei Monate in teilstationärer Behandlung wegen einer schweren Depression. Die Tagesstruktur in der Klinik (mit Ergotherapie, Holztherapie, Sport, Yoga, Einzelgesprächen, Gruppentherapie, Achtsamkeitsübungen) und dem Zusammenhalt zwischen den Patienten halfen mir, wieder auf die Beine zu kommen. Ich konnte Aufgaben übernehmen, konnte für die Station kochen und backen und hatte mich wieder im Griff. Meine Stimmung wurde besser und ich war so stabil, dass ich Mitte Februar entlassen werden konnte. Doch der Status Quo sollte nicht lange bleiben. Vielleicht war es das hochdosierte Antidepressivum, vielleicht war es ich, vielleicht waren es die Gene, doch Anfang April ging es mir wieder viel zu gut. Ich war aufgedreht, komplett verändert, hatte wieder 1000 Ideen, war sehr selbstbewusst und fühlte mich unglaublich stark. Ich hatte das Gefühl, alles schaffen zu können. Mir selbst war das gar nicht so bewusst, doch mein Umfeld, meine Familie, meine Freunde und mein damaliger Freund schlugen Alarm. Die Kritik habe ich nicht ernst genommen und nicht an mich rangelassen. Ich wollte nicht einsehen, dass etwas mit mir nicht stimmt, dass ich krank sein könnte, mir ging es ja gut. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich mich wieder stationär in Behandlung begab, doch ich fühlte mich gesund und wollte nicht noch ein Semester wegwerfen und im Sommer endlich studieren. Mein Freund trennte sich von mir, weil ich so verändert war und er mein Verhalten nicht verstehen konnte. Nach der Trennung holte ich mir Tinder und stürzte mich in viele Dates und Bekanntschaften, aus Selbstschutz, um abgelenkt zu sein. Ich drehte durch auf Social Media und redete wie ein Wasserfall. Ich ging kaum zur Uni und schlief jeden Tag bis mittags. Der Kompromiss war dann, nach unzähligen Notfallgesprächen mit dem psychiatrischen Krisendienst und meiner Psychiaterin, dass ich mich in den Semesterferien einweisen ließ. Und hier bin ich nun. Um in dem Dschungel von Depression, Psychose, Schizophrenie und bipolarer Störung Klarheit zu finden und medikamentös richtig eingestellt zu werden.

jan-jakub-nanista-z9hvkSDWMIM-unsplash

Die Klinik sieht von außen aus, wie man sich eine klassische Psychiatrie vorstellt, und doch so harmlos irgendwie. Ein steinerner Eingang mit großer, alter Holztür und der Aufschrift „Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie“ begrüßt einen und verrät, wo man sich hier befindet. Innen gibt es einen gläsernen Kasten, in dem der Pförtner sitzt und die Überwachungskameras checkt. Die Gänge sind weiß und hell, lichtdurchströmt von einer Fensterfront. Es gibt einen Innenhof mit Cafeteria, Garten, Bäumen und einem Bach, in dem die Patienten rauchen dürfen und sich mit Angehörigen und Besuch treffen können. Meine Station sieht ebenfalls sehr harmlos aus. Die Türen sind aus Holz und der Boden mit Teppich ausgelegt. Links sind Waschraum, Gruppenraum, Küche und Esszimmer sowie der Stationsstützpunkt der Pflege und die Büros der Ärzte und Psychotherapeuten. Rechts befinden sich die Zimmer der Patienten, die Toiletten und Badezimmer. In meinem Zimmer sind wir zu viert, ich teile es mir mit Marina, Samira und Lisa. Samira, ein kleines aufgedrehtes Mädchen mit tamilischen Wurzeln, begrüßt mich sofort mit ihrer impulsiven Art und überfällt mich mit Fragen „Wer bist du, wie heißt du, warum bist du hier?“, mit großen, weit aufgerissenen Augen sieht sie mich voller Erwartung an. Dann fängt sie lauthals an, einen tamilischen Song, der gerade auf ihrem Handy abgespielt wird, mitzusingen und scheint sich nicht mehr für mich zu interessieren, nachdem ich brav ihre Fragen beantwortet habe. Lisa ist sehr groß und hat langes, schönes, braunes Haar. Warum sie hier ist, weiß ich noch nicht. Bei meinem Bett kann man die Höhe verstellen, ich habe ein Nachtkästchen und einen Schrank zugewiesen bekommen.

„Aufstehen!“ – Der erste richtige Tag in der Klinik beginnt für mich mit einem Weckruf um 7 Uhr. Von 7.30 bis 8.10 Uhr darf man frühstücken. Danach findet die Morgenrunde statt, in der jeder Patient kurz erzählen soll, wie es ihm geht und was seine Pläne für den heutigen Tag sind. Um 9 Uhr habe ich das erste Mal Ergotherapie mit den anderen. Diese ist leider so ganz anders, wie ich es aus meinem alten Klinikaufenthalt gekannt habe. Wir dürfen nicht in die Werkstatt und etwas Schönes basteln, denn die Urlaubsvertretung unseres Ergotherapeuten hat sich etwas Besseres einfallen lassen. Der Mann, mit dem wir uns nun beschäftigen müssen, hat kurzes grauweißes Haar, eine schmale, silberne Brille und den Blick eines Lehrers. Wir fühlen uns zurückversetzt in die Schulzeit, als er uns sagt, dass wir die kommenden drei Wochen an einem Projekt arbeiten werden, für das wir eine Präsentation samt Flyer und Plakat erstellen sollen. Immerhin haben wir uns ein interessantes Thema einfallen lassen: Aufklärung über psychische Krankheiten. Doch präsentieren dürfen wir unsere Ergebnisse letztendlich nicht. (Für mich als Journalistin unverständlich.) Ich sehe keinen Sinn in dem Projekt und es fällt mir schwer, mich dafür zu motivieren. Nach der Ergotherapie ist erst mal eine lange Pause, in der ich mich langweile, faul im Bett liege und Netflix gucke. Dann ist Visite. Meine Ärztin, eine junge, sympathische Frau mit roten Haaren und einem modernen Kleidungsstil, frägt mich wie es mir geht. „Ich sehe, Sie haben sich schon gut hier eingelebt, Frau Schindler, und Kontakt zu den anderen Patienten geknüpft, das freut mich.“ Beim Sport darf ich noch nicht mitmachen, weil es dauert, bis ich im System für alle Gruppen und Programme angemeldet bin. Also langweile ich mich sehr viel und versuche mir die Zeit zwischen Frühstück, Mittagessen und Abendessen irgendwie zu vertreiben. Ich gehe viel in den Garten und rauche, unterhalte mich dort mit anderen Patienten. Im Garten trifft man auf die unterschiedlichsten Charaktere und Diagnosen. Zum Beispiel auf Malte, der mir erzählt, dass er in seiner manischen Phase 3000 Euro im Monat im Puff gelassen hatte, obwohl er verheiratet sei und ein Kind habe. Er hatte sich ein neues Motorrad und ein Auto gekauft, und sich damit enorm verschuldet. In einer Manie ist die Libido gesteigert und man gibt sehr viel Geld aus, muss man dazu sagen. Manche Betroffene sind bis in die Millionen verschuldet. Auch ich habe viel Geld in meiner Hypomanie, die Vorstufe einer Manie, ausgegeben. Zum Glück habe ich keine Schulden aufgebaut, denke ich mir, als Malte mir seine Geschichte erzählt. Und dann ist da Marvin, auch bipolar, der jedem die Hand gibt und sich bei allen vorstellt, er erinnert mich an den Charminbär aus der Werbung für Toilettenpapier. Oder Kevin, ein klassischer Borderliner, der schon unzählige Klinikaufenthalte hinter sich hat. Obwohl er behauptet einen tiefen Selbsthass in sich zu haben, kommt er mir oft selbstverliebt und rechthaberisch vor, er mischt sich überall ein und meint, alles besser zu wissen. Natürlich gibt es auch Klinikpärchen, wie Ahmed und Nathalie, eine absolut verrückte Kombination. Alle sind sich einig, dass die beiden sich draußen, in der normalen Welt, nie gefunden hätten. Nathalie ist sehr impulsiv, ich weiß nicht, weshalb sie hier ist, doch sie braucht viel Aufmerksamkeit, trägt fast täglich eine neue Haarfarbe und zertrümmert mindestens genau so oft eine Tasse der Cafeteria im Garten. Und Ahmed, ein Türke, der stets Hoodie, Röhrenjeans und angesagte Sneaker trägt, scheint sie zu lieben.

Langeweile sollte auch die folgenden Tage und Wochen mein ständiger Begleiter sein, denn wirklich viel Programm gab es auf meiner Station nicht. Manchmal kam ich mir vor, wie ein Versuchskaninchen, an dem ein neues Medikament ausprobiert wird und das nun zur Beobachtung hier festgehalten wird. Highlights für mich waren das gemeinsame Kochen mit anderen Patienten und einer Pflegerin oder ein Beautyabend für die Mädchen auf unserer Station, bei dem wir uns Gesichtsmasken auftrugen und uns die Nägel lackierten.

Ich war auf der Station für junge Erwachsene. Das bedeutet, dass fast niemand älter als 30 Jahre war. Es bedeutet aber auch strengere Regeln. Um Punkt 20 Uhr mussten wir wieder auf Station sein und uns zurückmelden. Bis 21 Uhr durfte man nochmal in den Garten, und von 21 bis 22 Uhr gab es noch einmal drei Mal fünf Minuten, in denen man raus durfte, um zu rauchen. Um 22.30 Uhr sollte man auf dem Zimmer sein, um 23 Uhr das Licht ausmachen und weder Handy noch Laptop benutzen. Für alles Mögliche musste man auf einem ausgeteilten Wochenplan Unterschriften sammeln. Und hatte man nicht alle Unterschriften beisammen, durfte man am Wochenende nicht nach Hause fahren, so die Drohung. Ich geriet oft in Schwierigkeiten wegen der Regeln und stritt mit der Pflege. Gleich an meinem zweiten Abend bekam ich eine Verwarnung, eine „gelbe Karte“, weil wir bis 23 Uhr im Garten geblieben waren. So war ich von Anfang an bereits mit einem Fuß draußen.

sharon-mccutcheon-FEPfs43yiPE-unsplash

In der ersten Woche stand ich noch brav morgens um 7 Uhr auf, ging mit Philipp joggen und schaffte es, die strikten Frühstückszeiten sowie die Morgenrunde einzuhalten. In der zweiten Woche bekam ich jedoch ein neues Medikament, Quetiapin, das mich morgens unglaublich müde machte. Trotz drei Weckern und geweckt werden, schaffte ich es nicht, pünktlich aufzustehen. Ich verpasste das Frühstück und die Morgenrunde. Wenn ich manchmal heimlich noch nach 8.10 Uhr frühstücken wollte und erwischt wurde, bekam ich einen Riesen Ärger. In der Visite erwähnte ich den Ärzten gegenüber immer wieder, dass das Medikament mich so müde machte, doch es schien sie nicht zu interessieren. Schuld war nicht das Medikament, sondern ich, die nicht aus dem Bett kam. Die Pfleger verhielten sich uns gegenüber bis auf wenige Ausnahmen sehr rau und bestimmt.

Die Atmosphäre auf der Station verschlechterte sich von Tag zu Tag. Regelmäßig gab es jemanden, der ausrastete oder zusammenbrach, unter all dem Druck. Einmal, spät abends, schrie Philipp die Pflegerin so laut an, dass es die ganze Station mitbekam. Das ging zehn Minuten so und wir hatten Angst, er würde auf die Geschlossene verlegt werden. Auch ich selbst hatte mich einmal nicht unter Kontrolle. Und ich rebellierte gegen die strengen Regeln, einmal zu viel. Bis ich rausflog, aus der Psychiatrie. „Ich habe eine schlechte Nachricht für sie“, meinte meine eigentlich so nette Ärztin zu mir an meinem letzten Tag. Ich sei entlassen, weil ich nicht zur Morgenrunde und in die Vitalwertkontrolle kommen würde, weil ich mich nicht an die Regeln halten würde, weil ich ein Unruhestifter und eine Grauzonentesterin sei. Uff. In Wirklichkeit wollten sie wahrscheinlich ein neues Bett frei haben, die Warteliste ist lang, und Neuaufnahmen brachten Geld, dachte ich mir. Denn gegen Regeln hatten wir alle verstoßen. Nur war meine Behandlung bereits so gut wie abgeschlossen, ich kam stabil in die Klinik und ging stabil raus, meinte meine Ärztin, und den anderen würde es noch nicht so gut gehen, dass sie die Psychiatrie verlassen konnten.

Nun bin ich also „entlassen“, als arbeitsfähig eingestuft, zurück ins normale Leben, in die harte Realität. Raus aus der beschützenden Klinik, in der ich sein durfte, wer ich bin und auch so akzeptiert wurde. Immerhin habe ich nun Gewissheit. Ich habe eine Diagnose und sie lautet Bipolare Störung. Ich habe ein neues Medikament, einen Stimmungsstabilisierer, der verhindern soll, dass ich weder in eine Depression noch in eine Manie falle. Die Tabletten werde ich wohl mein Leben lang nehmen müssen, um wie andere, normale Menschen zu funktionieren, mitzudrehen im Hamsterrad. Denn die Krankheit läuft im Hintergrund trotzdem weiter und könnte ohne Tabletten immer wieder ausbrechen. Trotz all den extremen Höhen und Tiefen, die das letzte Jahr mit sich gebracht hat, bin ich froh und dankbar um jede einzelne Sekunde, in der ich lebe. Und auch um meine Krankheit. Sie gehört zu mir und macht mich zu dem Menschen, der ich bin. Und trotz ihr, trotz vier depressiven und zwei hypomanischen Episoden in meinem Leben, habe ich all das erreicht, was die anderen in meinem Alter auch geschafft haben. Und sie hat mich stärker gemacht, ich habe nicht aufgegeben, sondern gekämpft und bin immer wieder aufs Neue aufgestanden. Deshalb sehe ich meine Krankheit nicht als Schwäche, sondern als Stärke an.

Das Positive an meinem Aufenthalt in der Psychiatrie waren die anderen Patienten, die ich dort kennenlernen durfte und nun mit Stolz meine Freunde nennen darf. Weil sie mich besser verstehen können, als jeder Arzt, Therapeut oder Außenstehende. Weil sie dasselbe durchmachen und wissen, wie es mir damit geht. Weil jeder einzelne sein eigenes Laster mit sich trägt. Und so sind sie alle einzigartig und besonders auf ihre Art und Weise. Es fühlte sich oft wie eine Gruppentherapie an, wenn wir miteinander sprachen und unsere Geschichten untereinander austauschten. Besser als jede Visite oder Einzeltherapie. In den drei Wochen Delirium waren diese Menschen mein Zuhause.

Depression ist nicht…

Depression ist nicht „nur“ Traurigsein

Wie sich eine Depression anfühlt // Wie sich die Depression für mich anfühlt

Woran erkennt man eine Depression? Was passiert mit mir in einer Depression?

—— ACHTUNG TRIGGERWARNUNG ——

Jede Depression ist anders, jede Krankheit verläuft anders. Trotzdem möchte ich versuchen, euch einen Einblick in das Krankheitsbild zu gewähren. Erklären, was die Krankheit mit mir macht, wie sie bei mir aussieht, wie sie sich bei mir äußert. Euch einen Zugang zur Krankheit geben.

Die gängigen Klischees zur Depression sind das Traurigsein, die Isolation, schlechte Laune, Lustlosigkeit, eine graue Wolke im Kopf etc pp. Dabei ist eine Depression so viel mehr als das. Meine depressiven Phasen beginnen schleichend. Ich werde vergesslich, unzuverlässig, orientierungslos. Von Tag zu Tag schaffe ich weniger, habe ich weniger Energie. Alles wird mir ein bisschen zu viel. Ich antworte kaum noch auf Nachrichten, weil ich zu unsicher bin, mich nicht mehr entscheiden kann, was ich schreiben soll. Der getippte Entwurf wird in Frage gestellt und letztendlich meist verworfen. Ich zögere beim Schreiben und überlege minutenlang, anstatt die Nachricht einfach guten Gewissens abzuschicken. Mir fehlt die Portion Sicherheit, Klarheit und das Selbstbewusstsein im Kopf. Alles wird hinterfragt und überdacht. Bequemer und einfacher ist es dann, die Nachrichten einfach liegen zu lassen und nicht zu beantworten, denn dann kommen auch keine Antworten mehr, auf die man wiederum antworten müsste, wozu in dem Moment einfach die Kraft und Energie fehlt. Lieber ziehe ich mir passiv stundenlang irgendwelche „interessanten“ (belanglosen) Videos und Reportagen auf Facebook und Instastorys rein, anstatt aktiv tätig zu werden. Als kleine Flucht von der Realität könnte man das sehen. Dinge, die ich im Normalzustand sehr gut kann, scheine ich in der Depression verlernt zu haben oder nur noch schlecht zu können. Ich kann mich sehr schlecht konzentrieren, logisch denken, etwas erarbeiten…

Bipolar und COVID-19?

Meine Lieben, ich habe echt lange gegrübelt, ob ich was schreiben soll oder nicht, da man das Gefühl hat, man hat schon alles dazu gehört, man kann und will es nicht mehr hören und niemanden mehr damit nerven. Jeder hat seine eigene Meinung dazu und das ist meine. (Wenn es euch jetzt schon nervt, hört auf zu lesen, im Ernst!)

Die ganze COVID-19 Situation aus Sicht einer bipolar Erkrankten

Corona, Virus, COVID oder auch einfach nur „die Situation“, die aktuelle Lage keine Ahnung – es nervt euch auch schön langsam? Ihr könnt es nicht mehr hören? Ihr habt das Gefühl, ihr werdet wahnsinnig, bekommt einen Koller so eingesperrt zuhause? Hey, dann willkommen in meiner Welt, ich bin nicht die Einzige. Wenn dich das Thema jetzt schon nervt, dann hör lieber auf zu lesen, das ist nicht Sinn der Sache. Also weg mit dem Handy und Social Media Detox. Wer weiter lesen will: sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt. Für mich lässt sich trotz meiner Erkrankung die Situation natürlich nicht vermeiden und ich muss mich genauso an die Regeln halten wie alle anderen, was ich auch bestmöglich versuche einzuhalten, versprochen. Und ich lache auch über Corona und versuche mir meinen Humor zu bewahren. Aber für chronisch psychisch kranke Menschen ist die ganze Situation überhaupt nicht witzig (also die, die auch schon vor Corona psychisch krank waren). Die Versorgungslage ist momentan krass eingeschränkt, es werden nur noch Notfälle behandelt und Menschen, die wirklich suizidal sind. Was im schlimmsten Fall bedeuten kann, dass Fälle übersehen werden und Menschen Suizid begehen und das nicht wegen Corona, sondern weil es ihnen unglaublich schlecht geht und ihnen nicht geholfen werden kann, weil sie vereinsamen in ihrer Wohnung vor lauter „Social Distance Warnings“ und was weiß ich. Ich finde eure Memes an guten Tagen auch witzig, die sagen: „Was? Mein Lifestyle wird Quarantäne genannt? Haha“ Aber im Ernst: Wow, ich hoffe ihr denkt nüchtern betrachtet nicht so, dann wäre das nämlich traurig und unsolidarisch für unsere Gesellschaft. Es tut mir in der Seele weh, dass sich alle so streiten wegen Corona, Schuldzuweisungen hier und da, alle schreien sich über Social Media gefühlt an, dass man gefälligst zuhause zu bleiben hat, sonst haben sie euch ins Hirn geschissen, oder vielleicht auch nur gepupst. Deswegen hier meine To-Do-Liste für psychisch kranke Menschen oder die, die es werden wollen, wie ich mich in dieser angespannten Situation besser verhalten kann:

 

  • Tag strukturieren und planen (Listen schreiben angefangen mit Zähneputzen, regelmäßiges Essen, Dinge, die unbedingt erledigt werden müssen und dann abhaken)
  • Soziale Kontakte etwa über Social Media planen und „Video Calls“ ausmachen, damit dein Umfeld weiß, dass es dir gut geht
  • Verständnis voll sein (aber das sind wir ohnehin eh alle), wenn etwas mal nicht so funktioniert, wie es sein sollte, es gibt echt Schlimmeres! Lacht über euch!
  • Dinge erledigen, für die man sonst aufgrund der Erkrankung nie Zeit hat (ich glaube da fallen allen genuuuuug Sachen ein)
  • Wenn du mit anderen Menschen zusammen lebst: Rede offen mit ihnen über deine Erkrankung, das wird dir und ihnen helfen, dich zu verstehen, warum du in manchen Situationen so reagierst wie du reagierst, auch wenn dann so Sprüche kommen wie „du bist ja nicht ganz dicht“ – dann darfst du auch ruhig zurück mobben (finde ich), solange man noch darüber lachen kann, Humor ist ja oft die beste Medizin bei sowas
  • Codewort mit Freunden oder WG ausmachen – irgendwas lustiges, das dir signalisiert, dass es gerade zu viel wird, ohne dass du gleich genervt bist, dass du dich jetzt schon wieder zurückhalten musst, oder vielleicht einen Song (Signal: jetzt wird’s zu manisch oder zu depressiv)
  • Nett bleiben zu allen, weil jeder sein Bestes gibt in dieser Lage
  • UND GANZ WICHTIG: Social Media Detox! Wichtiger denn je, in der jetzigen Lage. Handy weg, abschalten, auf andere Gedanken kommen, etwas Schönes machen, um auf positive Gedanken zu kommen.
  • Wenn es nicht anders geht und ihr zum Beispiel nicht schlafen könnt, passt eure Medikation in Absprache mit der Ärztin oder Therapeutin ab, gegebenfalls telefonisch
  • Verliert trotz allem eure Ziele und eure Motivation nicht aus den Augen. Irgendwann geht die Schule, Uni oder Arbeit wieder normal weiter und dann wollt ihr vorbereitet sein, also fangt trotzdem jetzt schon an zu lernen, Pläne zu schreiben, alles anzufangen, was von zuhause aus geht.
  • Bewegung und Sport in einem angemessenem Rahmen (zum Beispiel Yoga zuhause mit YouTube, spazieren gehen mit Mitbewohnern, wenn erlaubt)
  • Viel trinken (vergesse ich auch immer)
  • Trotz allem gut auf sich achten (Achtsamkeitstagebuch, generell Tagebuch, um runterzukommen, Selfcare, Metime)

 

Für andere sind das selbstverständliche Sachen, aber für uns nicht. Andere lachen darüber, aber für uns ist es (über)lebenswichtig. Deswegen bitte nehmt die Sache ernst und haltet euch an alles, damit hoffentlich diese ganze Ausnahmesituation bald wieder vorbei ist. Danke. Ende.

 

*Wenn ich was vergessen habe, schreibt mir ruhig per DM, Kommentare usw. – dann ergänze ich die Liste.